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HÖRNUM
Von Langeneß fuhren sie mit starkem Rückenwind über die Norder Aue und landeten an einem niedrigen Dünenstrand neben dem steinblockübersäten kleinen Geestkliff von Goting auf Föhr.
Die Halligwelt lag hinter ihnen. Föhr war eine ganz andere Insel, die stellenweise Geestcharakter hatte, wenn auch das meiste Marschland war. Aber die friesische Eigenart war trotz des Badeortes Wyk noch gut erhalten. Jan malte und zeichnete viel, und Heio photographierte. Da gab es herrliche alte Friesenhäuser in Nieblum mit wunderschönen geschwungenen Barocktüren und kunstvollen, messingnen Klinken, Schlössern und Griffen. Da waren prachtvolle schmiedeeiserne Hausanker und schöne Friesenstuben mit Kachelschmuck. Da gab es Kirchen, die trutzig und doch zugleich einfach und schlicht mit ihren wuchtigen Türmen emporragten und die ganz an die Kirchen Jütlands erinnerten. Da fanden sie auch Grabsteine mit interessanten Inschriften, die über das Leben so manches seebefahrenen Mannes berichteten, von Walfang bei Grönland und Spitzbergen, von Sklaverei und Schätzen bei den Türken und Mohren, von so manchem Schiff, das sie geführt hatten, von Ehe und vielen, vielen Kindern.
Aber Inge freute sich am meisten darüber, daß hier noch oft die alten Trachten zu sehen waren. Sie hatten zwar schon auf den Halligen einige alte Frauen mit dem eigenartigen Kopftuch getroffen. Hier aber sahen sie auch die schönen alten Filigranknöpfe und Silberketten, die für die nordfriesische Tracht charakteristisch sind. Als Jan und Heio merkten, wie sehr Inge sich daran freute, taten sie sehr geheimnisvoll, und eines Morgens lag vor Inges Zelt ein kleiner Karton. Als sie ihn neugierig öffnete, fand sie ein Silberfiligranarmband und einen Silberfiligrananhänger in der typischen Friesenart. Eine aufsteigende Rührung, die durch Inges Freude eintreten wollte, verscheuchte Jan durch einen Vortrag über den Silberschmuck an der Nordseeküste, in dem er nachwies, daß diese Art des Schmuckes von Holland aus sich weit in Norddeutschland verbreitet, aber in Friesland eine besondere Kultivierung erfahren habe.
Als sie starteten, um nach Amrum zu fahren, herrschte ein scheußlicher Gegenwind, und sie brauchten für das kleine Stück alle ihre Kräfte. Völlig erschöpft und von Spritzwasser durchnäßt, frierend und von Salz überkrustet, erreichten sie endlich die Nordspitze Amrums, eine herrlich einsame Dünenecke. Nun sahen sie schon das Endziel, Sylt, vor sich. Aber diese Ecke war doch so schön, daß sie einige Tage dort blieben. Sie wanderten durch einsame Dünentäler, kauften in Norddorf ein und zogen über die ungeheure Bank des Kniepsandes, der Amrum vorgelagert ist. Von ihrem Zelt sahen sie hinüber nach Föhr und von dem Dünenhaken nach Sylt.
Ein kräftiger Priel mündete an dieser letzten Dünenspitze in den großen Wattstrom des Hörnumtiefs. Er war ein Ausläufer des Amrumtiefs und hatte an seiner flachsten Stelle eine Furt für den Fußweg zwischen Föhr und Amrum, der bei Ebbe durch das Watt führte. Er schwemmte anscheinend vielerlei Getier aus dem Watt, denn an seiner Mündung wimmelte es immer von den verschiedensten Vogelarten. Regenpfeifer, Strandläufer, Austernfischer, Seeschwalben und Möwen konnten die drei von ihrem Zeltplatz aus beobachten. Wenn zwei von ihnen zum Einholen fort waren, lag der Übrigbleibende meist unbeweglich mit dem Glas vor den Augen im Sand und schaute zu den Tieren hinüber.
Aber endlich kam der große Tag, an dem die See so ruhig schien, daß sie das breite und gefährliche Hörnumtief zwischen Amrum und Sylt überqueren konnten. Es war ein stiller und sonniger Sommermorgen, als sie an der steil abfallenden Sandkante in die Boote stiegen und auf der seidig blauen See auf die fern leuchtenden Dünenketten Hörnums zu paddelten.
In erstaunlich kurzer Zeit hatten sie das Tief überquert. Als sie sich umschauten, schien Föhr wie ein Traum in der Luft zu schweben, dasselbe Bild, das sie so oft von den Halligen gehabt hatten. Aber vor ihnen hoben sich die hohen Dünen Hörnums jetzt ganz nahe aus der Flut. Da standen der Leuchtturm, die Dampferbrücke und die Häuser der winzigen Siedlung.*)
*) In den letzten 25 Jahren sind Hörnum und List leider zu großen Siedlungen geworden und haben viel von ihrer Ursprünglichkeit verloren.
Sie ließen sich von der Strömung noch etwas südlich treiben, um an den letzten einsamen Dünen der Südspitze Sylts zu landen und in ihrem Schutz ihre Zelte aufzubauen. Großartiger und wilder als alle Dünen, die sie auf ihren Fahrten schon gesehen hatten, erschienen ihnen diese Sandgebirge. Sie hatten ein feierliches Gefühl, als sie aus den Booten auf den hellen Strandsand traten. Es war das Gefühl, das jeder kennt, der sich ein großes, fast unerreichbares Ziel gesetzt hatte, ein Ziel, das von allen ändern als eine Utopie betrachtet wurde und das dennoch erreicht wurde. Es fielen Heio die vielen Gesichter wieder ein, die vielen Stimmen. Wie oft hatte er nicht das "unmöglich", "Unsinn", "Tollkühnheit", "verbrecherischer Leichtsinn" vernommen. Er hatte versucht, ruhig sein besseres Wissen dagegen zu setzen, ohne anderes zu ernten als Spott und Geringschätzung. Und nun hatten sie es doch geschafft. Sylt war erreicht.
Den ganzen Tag hielt dieses Hochgefühl an. Beim Essen vor dem Zelt waren sie schweigsam. Nirgends hatte sie der Orgelton der See so gepackt, der vom Weststrand herüberdrang. Am Nachmittag liefen sie hinüber, um zu baden. Es war kein starker Wind, aber hier stand eine Brandung, daß sie hellauf jauchzten.
Als die Sonne sank, segelten dunkle Wolkenschiffe aus dem Westen und standen vor dem goldenen Himmel. Mächtige Strahlenbündel schössen hinter ihnen hervor und ließen das Meer wie flüssiges Metall aufleuchten. Und aus der Unendlichkeit kam es heran. Unaufhörlich! Eine Welle nach der ändern hob sich empor und rollte auf den Sand, den flockigen Schaum hoch hinaufschleudernd. Wenn das Wasser sich mit leisem Singen wieder zurückzog, glänzte das Spiegelbild des Abendhimmels auf der nassen Fläche. Lange saßen sie auf der Düne und schauten über das Meer. Auch in den nächsten Tagen konnten sie sich noch nicht von diesem Platz trennen. Sie gingen zu der Bake, die einsam in den Dünen stand, und schauten über den Sand nach Süden, wo bei Flut auf den dortigen Riffen der "Knobs", wie die Sande da genannt werden, eine hochaufspritzende Brandung stand. Bei Ebbe erkannten sie dort draußen das Wrack eines Dampfers und auf einem der Sande eine Gruppe von Seehunden.
Sie liefen bis zum Südende der Sandbank, um dort zu baden. Aber sie kamen in solch starke Strömung, daß sie fast ins Meer hinausgetrieben wären.
"Das hätte gerade noch gefehlt, nach Erreichung des Zieles zu versaufen!" meinte Jan, als sie sich am Strand abtrockneten.
Sie hatten auch heitere Erlebnisse. So freundeten sie sich mit dem Hörnumer Leuchtturmwärter an. Das war ein Amrumer, der von seiner Frau für seinen wochenlangen Aufenthalt in Hörnum mit Konserven und Eingekochtem ausgerüstet wurde. Auch Tee hatte sie ihm mitgegeben. Die Konserven wußte er wohl sich zuzubereiten. Er brauchte sie nur warm zu machen. Aber Tee kochen, das konnte er nicht. Und seine Frau zu fragen, dazu war er zu stolz. Er war glücklich, als er einmal nun von Fremden diese schwere Kunst lernen konnte. Bisher hatte er lieber das heiße Wasser sich mit Rum und Zucker schmackhaft gemacht. Vielleicht hatte er aber am Abend die Belehrung schon wieder vergessen, denn er erschien etwas schwankend am Zelt, und indem er sich am vorderen Zeltstock anklammerte, daß Jan schon sein Zelt zusammenbrechen sah, bat er um weitere Hilfe.
"Was gibt's denn?" fragte Jan milde, obwohl sie alle schon in ihren Schlafsäcken gelegen hatten. "Ja", seufzte er, "ich will doch jetzt mit einem Motorboot von Amrum nach Hörnum und zurück fahren. Und da muß ich eine Prüfung machen. Ich kann das ja alles. Aber da ist auch die Theorie. Und das ist furchtbar schwer. Das kann ich nicht. Und da habe ich gedacht... die Herren sind doch studiert - ob Sie mir helfen können."
Er schluckte verzweifelt und sah Jan mit seinen großen Augen hoffnungsvoll an.
"Na, was ist denn da Schweres?" meinte Jan. "Ich hab mir das aufgeschrieben. Hier! Wieviel ist 10 000 durch 0,78? Aber das können Sie gewiß auch nicht?!"
Jan versuchte es ihm zu erklären und rechnete es ihm vor und notierte es ihm auf einem Zettel. Er war ganz Ohr. Nur jeden Augenblick schaute er nach dem Leuchtturm. "Ja, er brennt noch!" sagte er, bevor er seinen Hirnkasten weiter marterte. Dann behauptete er verstanden zu haben und schied mit bestem Dank und voller Lob ob der unvergleichlichen Klugheit der studierten Herren.
Es zog ihn wieder zu seinem Leuchtturm.
Nachts um halb ein Uhr kam er wieder. Er hatte auf dem angekommenen Bäderdampfer seinen Geburtstag, denn der war an dem Tage gerade gewesen, mit einem guten Tropfen weitergefeiert. Seinen Leuchtturm hatte er nicht dabei vergessen. Immer hatte er hingeschaut. "Ja, er brennt noch!" Aber nun kam er noch einmal - er hatte seinen Zettel mit all seiner Wissenschaft vergessen. Jan brachte ihn lieber zu seinem Leuchtturm zurück. Aber Jan mit hineinnehmen und ihm den Leuchtturm zeigen, das tat er nicht. Das war verboten, und trotz aller Geburtstagsfeier war die Pflicht sein oberstes Gesetz.
An einem der nächsten Tage bei schönem, ruhigem Wetter machten sie wiederum ihre Boote klar und fuhren mit der Flut über das Watt nach Norden. Die weiß leuchtende Zunge der Budersanddüne zog backbords vorbei. Dann kam eine schmale Wattwiese, und hinter einer Düne sah man die Dächer des Hamburger Jugendlagers Puan Klent.
Sie nahmen nun den wuchtigen Kirchturm von Keitum als Ansteuerungspunkt. Die Flut und ein sanfter Rückenwind drückten sie direkt darauf zu. Die Dünenkette der Hörnumer Halbinsel wich immer weiter seitwärts zurück. Fern sahen sie die strohgedeckten Häuser der kleinen Ortschaft Rantum, und Heio erzählte, wie er einst mit jungen Menschen von Puan Klent dorthin gewandert war, um Schlagsahne und Friesenkeks zu essen.
Sie erzählten sich noch mancherlei auf ihrer Fahrt. Zeitweise ließen sie sich treiben, und aus den Worten, die von Bord zu Bord klangen, spürte man die geruhsame Stille, die auch ihre Herzen ganz erfüllte. Mitunter sangen sie. Es waren schöne alte Volksweisen, wie sie sie sonst nur abends vor den Zelten gesungen hatten. Der blaue Himmel hatte eine eigene Art zu leuchten. Es gingen Heio die Worte Uhlands durch den Sinn:
Der Himmel nah und fern
Er ist so klar und feierlich
So ganz als wollt er öffnen sich.
Das ist der Tag des Herrn.
Die ändern mochten Ähnliches empfinden; denn es fiel oft lange Zeit kaum ein Wort.
Mehr und mehr hob sich vor ihnen die Halligküste des Ostflügels der Insel Sylt heraus. Dieses flache, von Prielen durchzogene Marschvorland erstreckte sich weit von Westerland über Keitum bis nach Morsum im Osten, wobei diese drei Orte selbst auf dem alten Festlandskern der Insel lagen.
Sie hatten so genau nach der Karte gesteuert, daß sie, als sie unmittelbar an die niedrige gleichförmige Halligkante herangekommen waren, sich genau vor der Mündung der Keitum-Wehle befanden, die als kräftiger Vorlandpriel bis zum Bahnhof Keitum führte.
Sie bogen nach Osten ab und paddelten bei Hochwasser bis zum Morsumer Marschland, wo einige Häuser auf Warften standen. Heio erzählte, daß er früher hier einmal das Wrack eines Seglers gefunden habe, der bei einer Sturmflut auf dem Vorland gestrandet war. Er war damals noch ein Junge gewesen und hatte auf dem einsamen Schiff herumgespielt und die zerrissenen Segel zu setzen versucht und die Fetzen einer Seekarte mit einer Art romantischen Gruselns betrachtet.
Als er dann später nach Morsum hinübergewandert war, fand er dort bei den Bauernhäusern eine große Aufregung und ein Rätselraten darüber, wie denn auf dem verlassenen Wrack draußen im Vorland plötzlich die Segel aufgestiegen seien. Es war wie ein Spuk gewesen. Heio hatte nichts gesagt. Es hatte ihn aber selbst eigenartig gepackt, als er nun zurückschaute und fern das einsame Wrack mit den halb gesetzten Segeln sah.
Sie zelteten am Vorland, als das Wasser abzulaufen begann. Die Tüten und Austernfischer schrien klagend über dem Watt, auf dem das Abendlicht in tausend Pfützen und Rinnsalen funkelte, und das leise Wispern war wieder um sie, daß sie auf Hörnum bei Brandungsrauschen und den schrillen Schreien der großen Silbermöwen, die dort brüteten, fast vergessen hatten. Draußen im Watt lagen große Steine. Es sind Reste von Hünengräbern. Sie beweisen, daß in prähistorischer Zeit hier Land war.
Früh am nächsten Morgen stiegen sie wieder in die Boote, um bei Hochwasser an dem Eisenbahndamm zu sein, der Sylt mit dem Festland verbindet. Sie mußten weit ins Watt waten, um noch mit der Flut zum Damm zu kommen. Das Wetter war unverändert gut. Sie hatten das auch bei der schwierigen und mühsamen Umtragerei nötig. Am Damm war starke Anschlickung, aber auch breite Buschlahnungen und spitze Steine am Dammfuß waren zu überwinden.
Als sie die Boote oben hatten, sahen sie fern einen Zug nahen, der bald an ihnen vorüberdonnerte. Erstaunte Augen schauten aus den offenen Fenstern zu ihnen heraus. Aber dann war der Zug wie ein Spuk vorüber, und das Räderrasseln verklang in der Feme. Sie waren glücklich, daß sie noch die salzige Luft des Meeres atmen konnten und noch die Stille und Weite der freien Wildnis um sie war.
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