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FISCHFANG UND SEEHUNDJAGD
Sie saßen vor ihren Zelten, und der zarte Duft frisch bereiteter Champignons stieg in die Seeluft. Überall standen die schmackhaften, weißen Pilze auf dem grünen Vorland. Schon auf Hallig Hooge hatten sie den dreien ein Mittagsmahl geliefert. Die Halligbewohner selbst schienen sie weder hier noch dort auszunutzen. Auch die schmackhaften Miesmuscheln und die "Piep-Oisters", wie die Fischer die Klaffmuscheln nannten, wurden kaum gegessen.
Aber da kamen drei Mädchen über das grüne Halligland. Sie trugen große Rahmen mit Stangen. An den Rahmenbügeln hingen feine Netze. Sie wateten barfuß von der Kante ins Watt hinaus. Immer wieder spritzte das Wasser von den flachen Pfützen auf, durch die sie gingen. Es war Niedrigwasser. Ganz fern stand der glitzernde Strich der Süder Aue. Ein Priel führte draußen durch das Watt. Dort blieben die Mädchen stehen und nahmen ihre Netze ab. Sie waren so weit entfernt, daß sie nur noch durch das starke Fernglas zu erkennen waren. Was sie indessen dort taten, konnte man nicht sehen.
"Die Flut muß bald eintreten", sagte Heio.
Und sie kam. Überall schob sie sich in silberglänzenden Flächen über das dunkle trockene Watt. Wo eben nur ein paar kleine Tümpelchen und Rinnsale auf dem Meeresgrund zu sehen gewesen waren, rauschte jetzt in frischen kleinen Wellen das wiederkehrende Meer.
Aber die Mädchen? Was war mit ihnen? Warum kamen sie nicht wieder zurück? Sie sahen sie immer noch unbeweglich da fern im Watt stehen.
"Wenn nur mit ihnen nichts passiert ist", rief Inge voller Unruhe aus. "Vielleicht sind sie in einem Schlickloch eingesunken."
"Alle drei? Das ist doch wohl ziemlich unwahrscheinlich", meinte Jan. "Außerdem sollten die hier das Watt doch kennen."
"Wißt ihr was?" rief Heio. "Wir setzen uns in unsere Boote und paddeln hin. Die Flut ist schon hoch genug, daß wir eben über das Watt fahren können. Dann schauen wir uns die Geschichte einmal an und geben, wenn nötig, Hilfestellung."
"Großartige Idee!" jubelte Inge. "Zu Schiff! Zu Schiff!" Rasch brachten sie ihre leeren Einer ins Watt und paddelten mit schnellen Schlägen auf die fernen Punkte zu. Als sie näher kamen, erkannten sie, daß die Mädchen bis an den Leib mit allen Kleidern im Wasser standen. Die kleinen Wellen spritzten mitunter bis zur Brust, und ihre Kleider waren völlig durchnäßt. Nur die Kopftücher waren noch trocken. Ganz nahe fuhr Inge in ihrem Einer heran. "Was ist los mit Ihnen? Sollen wir Sie retten?"
Das angeredete Mädchen, das staunend die drei Faltboote betrachtet hatte, guckte sie groß an.
"Retten?" meinte sie, "retten? Wi fischt doch op Porren!" Die ändern lachten. Nun sahen sie es: alle Mädchen hielten einen Stock vor sich ins Wasser und schienen sich darauf gegen die strömende Flut zu stützen, die sie hier im Priel mit kleinen Wirbeln umzog. Jetzt hob eine von ihnen die Stange mitsamt dem Rahmen, der auf dem Grund gestanden hatte, empor. In dem Netz zappelten Hunderte von grauen Nordseegarnelen, die die Fischerin mit einem Schwung aus dem Netz in einen Korb entleerte, den sie an einem Tau fast unter der Achsel hängen hatte.
"Nu hebbt wi ok nog!" sagte die zweite. "Mi ward dat ok to kold", fügte die dritte hinzu.
Alle gingen schwerfällig durch das Wasser. Plötzlich stieg eine nach der ändern aus der Flut ein ganzes Stück empor, so daß sie nur noch bis wenig über Kniehöhe im Wasser standen. Sie waren aus dem Priel auf das höhere Watt gestiegen. Hier war auch die Strömung nicht mehr so stark. Aber die nassen Kleider klebten ihnen an dem Körper und verrieten die jugendschönen straffen Formen der jungen Fischerinnen.
Die drei paddelten neben den watenden Mädchen auf die Hallig zu.
"Hat sich denn der Fang gelohnt?" fragte Jan.
"Jo, in den Priel is bi dit Wetter ümmer ganz got fischen!" antwortete die jüngste, die ein leuchtend rotes Kopftuch hatte.
"Ja, die Flut drückt die Krabben in Ihre Netze", sagte Inge. "Aber warum ziehen Sie sich keinen Badeanzug an? So einen, wie ich anhabe. Da wird doch die Kleidung nicht naß, und es ist doch auch viel gesünder."
Die drei Mädchen kicherten verlegen. Endlich rief eine von ihnen: "Nee, so nackig treckt wi uns nich ut. Denn möt wi uns je schämen!"
Eine andere antwortete: "Ohne Tüg is uns dat to kold in dat Water!" Alle lachten.
Am Vorland angekommen, erhielten die drei Kameraden etwas von der Beute geschenkt. Dann zogen die Fischerinnen über das Halligland in ihren nassen Kleidern auf die nächste Warft zu. Während Inge das Geschenk zubereitete, erzählte Heio von anderen Erlebnissen mit Fischern im Watt.
"Ich bin in Eiderstedt und auf Trischen oft mit Tagelöhnern und den Schäfern am Deich zum Fischen hinausgefahren. Mit ablaufendem Wasser waren wir in einem Priel in das weite Watt gerudert, immer den langen Reihen der Pricken nach. Eine Sandbank nach der andern tauchte möwenumschrien aus den strömenden Wassern. An einem hohen Wattrücken machten wir halt, entnahmen unserm Boote ein Bündel von Netzen und wateten auf das Watt, nachdem wir das Boot verankert hatten. Wir wanderten eine ganze Strecke über den Grund, bis wir an einen tieferen Priel kamen, der aber an seiner Mündung wieder flach wurde.
Hier spannten die Fischer das Netz quer durch den Priel, und dann ging der eine auf der einen Seite und der andere auf der ändern Seite prielaufwärts, und so schleppten sie das Netz langsam durch die Senke, bis diese an ihrem oberen Ende wieder flach wurde. Rasch watete der eine von den Fischern wieder zu dem ändern hinüber, und dann zogen sie das Netz auf den Sand des trockenen Watts. Es wimmelte im Netzsteert, dem Netzbeutel, von Schollen und vor allem von Aalen. Bei jedem größeren Aal schrien die Fischer vor Begeisterung und freuten sich auf das Räuchern oder auch auf den gebratenen Fisch.
So machten sie es an mehreren Stellen, und gelegentlich mußte ich das Boot hinterhertreideln. Da sie einen guten Fang gemacht hatten, waren sie froh und verrieten mir, daß sie sonst ungern Städter zum Fang mitnähmen, aber ich sei ja auch kein richtiger Städter, und außerdem hätte ich ihnen Glück gebracht. Es käme nämlich auch vor, daß sie so gut wie gar nichts fingen.
Ein andermal ging ich mit zwei Fischern bei Niedrigwasser zu einem Priel im Schlickwatt. Sie hatten jeder zwei lange Stangen, zwischen denen ein Netz war. Sie trugen diese Last bis zu dem Priel, spreizten dann die Stangen, die drehbar aneinander befestigt waren, auseinander, so daß sich das zwischen ihnen befestigte Netz spannte, und verriegelten das Gerät in dieser Stellung mit einem Querholz. "Büttleed", Buttlade, nannten sie es.
Dann stellten sie es vor sich auf den Meeresgrund, so wie es die Fischerinnen vorhin mit ihrem Hamen machten. Die Flut kam im Priel rasch heraufgeflossen und schwellte bald das Netz. Die Männer blieben so lange im Priel stehen, bis die Flut ihnen bis zur Brust reichte und die Strömung sie fast umzureißen drohte. Von Zeit zu Zeit hoben sie das Netz empor und holten die Schollen, die mit der Flut hineingeschwommen waren, heraus.
Als ich ein Jahr später dorthin kam, hatten sie sich kleine Ruderboote zugelegt, die sie bei Niedrigwasser über den Schlick schleiften und dann quer zur Prielrichtung verankerten. Kam dann der Flutstoß, so kletterten sie in die Boote und stellten von da aus die Buttlade auf den Wattengrund. So konnten sie das Gerät auch besser über den Bootsrand hochdrücken und dann mit einem Kescher die Schollen herausholen und in einen bereitstellenden Eimer tun. Der ganze Fang dauerte nicht einmal eine Stunde, dann war die Flut so hoch gestiegen, daß der Butt nicht mehr im Priel, sondern auch seitwärts über das Watt wanderte und außerdem das Gerät schwer zu bedienen war. Aber diese kurze Zeit lohnte sich auch oft. So ein Eimer Schollen war eine schöne Bereicherung der Abendtafel, besonders für diese meist armen Leute.
Aber alle diese Fangmethoden sind nicht für den Erwerb bestimmt, wenigstens nicht hauptsächlich. Sie dienen gewissermaßen nur zur Ernährung der Fischer selbst.
Etwas anderes ist die Porrenfischerei mit den Motorkuttern."
"Du meinst solche Fahrzeuge wie das, von dem wir in der Elbmündung die Krabben noch dampfend und warm aus dem großen Kessel serviert bekamen?" fragte Jan. "Oder solche Granatfischerboote, wie wir sie in Greetsiel und vor Norddeich sahen?" ergänzte Inge.
"Ja", sagte Heio, "ihr könnt auch an die Büsumer Krabbenfischerfahrzeuge denken, die uns im Falschen Tief und vor Tertius-Sand überholten. In Ostfriesland heißen diese Garnelen Granat, in der Elbmündung, also im niedersächsischen Sprachgebiet, Krabben und hier in Nordfriesland Porren." "Da muß ich dich noch etwas anderes fragen", unterbrach ihn Jan, "du sprachst davon, daß wir westlich der Weser, oder vielleicht besser der Jade, ostfriesisches Gebiet haben, daß zwischen Weser und Eider niedersächsisches Land ist und nördlich der Eider wieder nordfriesisches liegt. Du zeigtest uns das auch an den Bauernhäusern. In Ostfriesland das langgestreckte Haus mit dem herausgestuften vorderen Wohnteil und der Trennung von Stall und Wagendiele an der Hinterseite! In Niedersachsen das Langhaus, in dem Wohnteil und Stallung und Diele vereinigt sind und das hinten die ,Grotdör' hat, die in die ,Grotdeel', die große Diele, führt, an der links und rechts Kuh- und Pferdestall liegen! Und hier oben in Nordfriesland wieder die Trennung von Stall und Diele und die beiden Eingänge an der Rückseite, wie du es uns bei dem Eiderstedter Haubarg zeigtest. Und schließlich der Typ der Hallighäuser mit dem Friesengiebel! Aber wenn wir das alles auch sahen und verstanden, von der friesischen Sprache haben wir nicht viel bemerkt, außer auf ein paar alten Grabsteinen."
"Du hast recht, Jan!" sagte Heio, "die friesische Sprache ist immer mehr zurückgegangen und wird fast nur noch von alten Leuten gesprochen und verstanden. Die Jugend spricht nur Plattdeutsch. Oft hält sie sogar dieses Platt für Friesisch. Das ist namentlich in den kleinen Städten mir oft begegnet. Unsere Fischerinnen sprachen ja auch platt, obwohl man hier auf den Halligen noch am ehesten Friesisch hören kann." "Aber du wolltest uns doch etwas von deiner Fahrt mit solch einem Krabbenfischerkutter erzählen, Heio", sagte Inge. "Ach ja! Ich bin einmal zum Fang mitgefahren. Man wirft draußen das Netz aus, das über den Grund geschleift wird. Es ist also ein Grundnetz. Dann wird es an Bord gehievt und der Netzbeutel in einen am Heck befindlichen Raum, der mit einem Querbrett abgeteilt ist, entleert. Da zappeln dann die springenden grauen Garnelen, Schollen, kleinen Seezungen und Aale, Seeskorpione und Schwimmkrabben, Seesterne und dergleichen durcheinander. Vor allem aber sind es eben Krabben, Garnelen. Die werden dann gleich in Seewasser gekocht. Nach dem Kochen werden sie auf großen Sieben durchgeschüttelt. Die kleinen Tiere, die zum Verkauf ungeeignet sind, kommen dann in die sogenannte ,Gammelfabrik', die oft in einer Schute in einem Krabbenfischerhafen untergebracht ist. Da werden sie dann zu Fischmehl verarbeitet, das als Viehfutter oder auch als Düngemittel verwendet wird.
Auf solch einem Krabbenkutter hab ich auch einmal eine Seehundjagd mitgemacht. Wir fuhren an einem strahlenden Sonnentag in das äußere Hevergebiet. Die Hallig Südfall schwebte wie ein Strich in der Luft, der nur den Knoten der einen Warft mit dem Haus zeigte und der nach Osten in eine weißschimmernde Bank auslief. Der Himmel ging ohne Grenze in das Meer über, das wellenlos dalag, wie ich es ganz selten erlebt habe. Es war alles eine tiefe Bläue, in der man fast ertrank.
Aus diesem Meer hob sich eine steile Sandbank, auf der wir beim Näherkommen eine große Seehundherde erkannten. Wir fuhren in voller Fahrt mit laut puckerndem Motor darauf zu, und die ganze Herde wälzte sich in wilder Flucht ins Meer. Es war ein eigenartiger Anblick, die sich aufbäumenden dunklen Leiber in dem weiß aufspritzenden Meer versinken zu sehen. Aber das hab ich ja auch mit euch auf der Robbenplate bei Scharhörn erlebt.
Während wir an die Sandbank heranfuhren, sahen wir schon überall die Köpfe der Seehunde aus der Flut tauchen, die uns neugierig betrachteten. Wir gingen an Land und warfen uns auf den Sand, während einer der Fischer das Boot wieder von der Bank abstakte, den Motor anwarf und davonfuhr. Die überall auftauchenden Seehundsköpfe sahen dem Fahrzeug nach, das für sie der unheimliche Störenfried und Feind war. Als es entschwand, wähnten sie die Luft rein und wandten sich wieder der Sandbank zu.
Aber da lagen ja schon - so mögen die kurzsichtigen Tiere gedacht haben - einige andere Seehunde. Und nun benahm sich der Fischer wie ein Seehund - und wir anderen machten es ihm nach. Er warf den Kopf sichernd hoch, richtete sich auf den Ellenbogen auf und schlug die übereinandergelegten Füße hoch.
Das gab den Ausschlag! Die noch etwas mißtrauischen Robben kamen rasch näher, und einer wollte gar auf die Bank hinauf. Da fielen die Schüsse, und zwei der schönen Tiere trieben in der Flut. Wir sprangen schnell ins Wasser, um sie zu bergen.
Der eine lag fast auf dem Sand. Es waren Burschen von einem und einem halben Meter Länge. Sie hatten ein gelbweißes Bauchfell und eine graue, dunkel gefleckte Rückenseite.
Die übrigen Seehunde waren beim Knall der Schüsse verschwunden; aber dieser Knall war zugleich das Signal für unser Boot gewesen, das nun mit pochendem Motor wieder heranzog und uns aufnahm. Die Tiere wurden gleich an Bord abgespeckt. Das Fell und die Speckschicht, die so dick wie eine Hand hoch war, wurden aufbewahrt - aus dem Fett sollte Tran gekocht werden - und der ganze übrige Kadaver flog über Bord. Mir hat das leid getan, ich hätte gern einmal wie ein Eskimo Seehundleber gegessen."
"Alter Materialist!" sagte Jan.
Inge war traurig.
"Warum muß der Mensch diese schönen Tiere mit den so klugen menschlichen Augen töten? Das bißchen Fell und Fett kann das nicht rechtfertigen. Ich sah zwei Seehunde in einem Riesenaquarium in Helgoland ihre Schwimmkünste ausführen. Es war ein herrlicher Anblick, durch die Spiegelscheibe ihre eleganten Bewegungen unter Wasser zu sehen. Man kann das gar nicht ahnen, wenn man sie sonst nur von oben in einem Zoobecken erblickt.
Und seit ich sie auf unsern Faltbootfahrten so nah neben mir im Wattenmeer auftauchen sah und in ihre fast menschlichen Gesichter schauen konnte, hab ich die Tiere liebgewonnen."
Es war ganz still. Die Sonne rüstete sich zum Untergang und malte den Himmel in Gold und Rot. Leise schlug nur die Flut gegen die Grasnarbe der Halligkante, waschend und spülend. Vereinzelt hörte man bald hier bald dort das Losbrechen einer Rasenscholle, die klatschend versank.
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