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ZU DEN HALLIGEN
In den nächsten Tagen gingen sie zur Hallig hinüber, die fern über dem glitzernden Watt bei Ebbe und Flut sie gelockt hatte. Die Wanderung war leicht und angenehm. Kein größerer Priel kreuzte ihren Weg, und nirgends waren tiefere Schlickstellen.
Bald lag dann auch die Hallig vor ihnen. Deutlich hob sich das flache Grasland mit seinem meterhohen Abbruchkliff über dem Watt ab, und gegen den Himmel sah man die hohe Warft. Windverwehte Büsche schienen auf ihr zu wachsen, und das helle Friesenhaus mit dem Rethdach leuchtete weiß herüber.
Als sie den Halligrand erreicht hatten, staunten sie, wie zerrissen er von der Strömung und der Flutbrandung war. Tiefe Löcher und Runsen waren in ihn hineingeschlagen. Losgerissene Grassodenblöcke lagen vor der Kante, und stellenweise hatten die Wellen davor Kolke und Wannen ausgewaschen. Schluchtartige Buchten und vorspringende Kaps bildete das Grasland. Zuweilen lagen sogar vor der Kante einzelne Pfeiler und kleine Inseln, die bei der Zerstörung der Halligfläche nachgeblieben waren.
"Nie habe ich so deutlich die zerstörende Kraft des Meeres gesehen", meinte Inge und betrachtete das wilde Bild. "Laßt uns einmal um die Hallig laufen. Wir haben ja Zeit", schlug Heio vor.
So schritten sie an der Kante entlang. Zuweilen war anscheinend bei Flut das Salzwasser auf die Grasnarbe gespritzt und hatte an manchen Stellen, konzentriert durch die Verdunstung, den Rasen weggefressen. Dann hatte das Meer dort tiefe Löcher ausgespült.
Allmählich änderte sich das Bild. Das Abbruchkliff wurde weniger hoch. Die Brandungshohlkehle und die unruhigen Formen wurden sanfter und das Watt schlickiger. Schließlich sahen sie gar Quellerpflanzen im Schlamm wurzeln. Zunächst standen sie vereinzelt, dann aber bald in ganzen Rasen und dazwischen schon hier und da Grasbulte.
"Seht! Auch diese Hallig wandert. An der einen Seite wird sie angegriffen und abgetragen, und an der ändern Seite wächst sie aufs neue an. Eine gewisse Ähnlichkeit mit den Vorgängen auf den ostfriesischen Inseln, nicht wahr?"
Heio kam nicht weiter. Einige Priele waren schon aus dem Innern der Hallig ins Watt gemündet, aber stets war ihre Mündung flach im Sand verlaufen. Hier war auch ein Priel. Aber in seinem flachen Mündungsbett sank Heio plötzlich bis über die Knie in den weichen Schlick. Die ändern beiden lachten, aber sie mußten helfen, ihn herauszuziehen. Er konnte sich allein nicht befreien.
Als sie nun es vorzogen, auf dem Grasland der Hallig an dem Priel entlang ins Innere zu wandern, sagte Heio, der sich mühsam gesäubert hatte:
"Das erinnert mich an eine Geschichte, die mir im Trischener Watt passiert ist und die bedeutend unangenehmer hätte ausfallen können. Ich hatte am Ufer des Flackstroms, wie dort ein großer Wattenstrom heißt. Schlickwattformen betrachtet und photographiert und war in einen breiten Priel eingedrungen, der ein interessantes Delta aufwies. Oberhalb davon konnte man wunderbar die mehrfache Verlagerung seines Laufes in seinem terrassierten breiten Bett erkennen. Um eine Aufnahme davon zu machen, verließ ich mein Boot, behielt aber - ich weiß noch heut nicht warum - das Ende meiner am Boot befestigten 20 m langen Treidelleine in der Hand. Ich tat das sonst nie, und es war eigentlich sinnlos, denn ich brauchte nicht zu befürchten, daß mein Boot bei der sinkenden Ebbe abgetrieben würde.
Plötzlich wurde der Schlick' so tief, daß ich kaum noch voran konnte, und auf einmal versank ich bis an den Leib im zähen Schlamm. Ich konnte mich auf keine Weise selbst wieder befreien, obwohl ich mich lang auf das Watt zu legen versuchte. In der ungeheuren Leere und Einsamkeit - die Küste war fast 20 km entfernt - war es sinnlos, um Hilfe zu rufen. Ich wäre verloren gewesen und hätte warten müssen, bis die Flut mich ersäufte, wenn - ja, wenn ich nicht zufällig das Ende meiner Treidelleine in der Hand verspürt hätte. Daran zog ich mein leichtes Boot zu mir heran und mich selbst an ihm aus dem Schlick." Inge war ganz blaß geworden. Sie faßte Heio an der Hand und sagte leise: "Du mußt mir versprechen, nie wieder allein ins Watt zu fahren!" Heio nickte ernst.
Sie waren inzwischen an vielen Schafen vorbeigekommen, die den grünen samtartigen Rasen des Vorlandes abweideten. Hier und da blühten die rosa Grasnelken, und an dem geschlängelten Vorlandpriel wuchsen violette Staticen, die die Friesen Bonnestave nennen, und der silberweiße Strandwermut, aus dem die Ostfriesen einen Schnaps herstellen. Nun ragte die Warft vor ihnen auf. Als sie um sie herumgingen, um von vorn in das Haus zu gelangen, sahen sie, daß auch der Fuß der Warft Zerstörungen und Auswaschungen aufwies.
Über der Tür des Friesenhauses hing eine Galionsfigur, die der Bewohner einst von einem auf Süderoogsand gestrandeten Schiff geborgen hatte.
Der Hausherr trat eben in die Tür und schaute den dreien mit seinem schmalen, kühlen Gesicht, über dem ein blonder Haarschopf stand, prüfend entgegen. Dann ging aber ein Schein des Erkennens darüber, und ohne jede Zurückhaltung begrüßte er Heio herzlich. Heio hatte einmal längere Zeit bei ihm auf der Hallig gewohnt und war nun stolz, den ändern alles zeigen zu können.
Das Haus war in einem Quadrat um einen sauberen Innenhof gebaut, damit das Regenwasser sich dort in einer Zisterne sammeln konnte.
"Das erinnert ja an das römische Haus mit seinem Impluvium!" sagte Jan.
"Ja", erwiderte Heio, "dort im Mittelmeerraum und im Orient ist es die Trockenheit, die die Menschen zu einer solchen Bauweise gebracht haben mag, hier ist es der Mangel an Süßwasser. An Wasser selbst ist übergenug vorhanden."
"Das erinnert an den Queller", meinte Inge, "der sieht wie ein Kaktus aus, weil er Süßwassermangel hat."
Auf der einen Seite des Hofes lag der Schafstall, der jetzt bei dem guten Wetter leer war. Heio erzählte, wie sie einmal bei einer Sturmflut, als die Insel unter Wasser getaucht war, die Tiere alle hineingetrieben hatten. Das Hochwasser war so schnell gekommen, daß sie einige sogar mit dem Boot holen mußten, weil die nicht mehr über die Prielstege kamen.
Vor dem Hause war der Fething. Tief eingesenkt in die Warft lag dort ein Süßwasserteich, dessen Wasser zur Viehtränke benutzt wurde. Sie sahen nun auch, daß das, was sie als Büsche vom Watt her gesehen hatten, in Wirklichkeit alte knorrige Bäume waren, die aber nur im Schutz des hohen Erdwalles wachsen konnten, der zum Fething abfiel. Sobald sie ihre Kronen über den Wall der Warft steckten, faßte der Wind sie so, daß sie abstarben und nur wenige Zweige sich an der Ostseite entwickeln und halten konnten. So sahen die Bäume schief und verwachsen aus. "Windgeschert" nannte Jan sie.
Nachdem sie ihre Milch und ihre Eier bekommen hatten, die sie zur Vervollständigung ihres Proviants brauchten, folgten sie der Einladung des Bauern in seine Stube. Während draußen der Nordwest über die Hallig strich, saßen sie hier in der kleinen Stube geborgen und schauten sich einige alte Dokumente an, in denen fremdländische Seeleute dem Großvater des Halligbauern ihren Dank für Rettung aus Seenot und die erwiesene Gastfreundschaft ausgesprochen hatten.
Sie lauschten den Geschichten von den letzten Strandungen und Wrackfunden auf Süderoogsand und erfuhren, daß der Bauer auch die Betreuung der Bake zu besorgen hatte. Zu diesen Erzählungen tickte leise die alte holländische Wanduhr. Bilder und Gebrauchsgegenstände berichteten dem Betrachter, daß hier meergeborene, aber auch meergebundene Menschen lebten. Das Halligsilber, jene schönen handgearbeiteten Eßbestecke, deren Griff oft eine Nachbildung von Schiffen ist, wurde ihnen ebenso gezeigt, wie die Erinnerungen an diese oder jene historischen Ereignisse.
"Ist es Ihnen nicht mitunter etwas einsam auf Ihrer Hallig?" fragte Inge. Der Bauer wehrte fast entsetzt ab. "Im Gegenteil! Ich sehne mich oft nach dem Winter, da kommt es wenigstens nicht vor, daß plötzlich ein Boot landet und ein Schwärm neugieriger Touristen meine Hallig überschwemmt, mir die Seevogelgelege zertritt oder doch die Jungen stört, überall aufdringlich herumschnüffelt und dumme Fragen stellt."
Inge wurde rot und schwieg betreten. Der Halligbauer lachte. "Nee, mein Deern, so war das nicht gemeint. Ihr seid eine Ausnahme. Ich kenne Heio, und ich finde es von einem Mädel verdammt tapfer, hier draußen herumzuschippern. Hoffentlich versauft ihr nicht!"
Draußen vor den bleigefaßten kleinen Scheiben hatte längst die glitzernde Flut das Watt verschlungen.
"Wir haben heut Springhochwasser!" meinte der Bauer und schaute nach einer kleinen Windfahne, die auf einer Stange nicht weit vom Fenster befestigt war. "Wollt ihr mit zur Kante?"
So gingen sie über das weiche Gras zum Halligrand. Die Flut hatte ihn schon erreicht, und graugelbe, schmutzige Wellen schlugen mit Wucht gegen das Abbruchkliff, daß weiße Gischtfontänen meterhoch aufspritzten. In die Schluchten und Rillen drängten sich pressend die Wellen, rissen und rüttelten an der Kante, daß die Menschen den Boden unter sich deutlich zittern fühlten.
"Wir müssen das Heu bergen, sonst schwimmt es uns weg. Heut taucht das Land unter", sagte der Bauer und ging rasch, um seine Leute zu holen.
Überall liefen Jungvögel herum, Austernfischer, Seeschwalben, Regenpfeifer, Strandläufer.
"Schade um die Jungen", murmelte Heio, "die werden wohl zugrunde gehen!"
"Ja", bestätigte der Bauer, "solche Sommerfluten sind für die Jungvögel eine Plage."
Sie faßten mit allen Kräften bei der Bergung des Heus an. Es wurde in große Laken gesammelt und zur Warft getragen und gefahren. Von einer Ecke brachten sie es im Boot heim. Die Vorlandpriele standen schon längst voll Wasser. Bald stieg die Flut auch über die Grasnarbe. Sie aber arbeiteten noch weiter, im Wasser watend. Blökend zogen die Schafe die Warft hinan, auf der sich der Heuberg höher und höher türmte. Auch über ihn wurden große Laken und Netze gespannt, damit der Wind ihn nicht umreißen und das kostbare Heu ins Meer entführen konnte. Als sie ziemlich erschöpft als die letzten die Warft hinanstiegen, fielen ihnen Stapel merkwürdiger Platten auf, die vor dem Hause lagen.
"Das sind Ditten, Halligbriketts!" sagte der Bauer zu Inge. Auf ihren fragenden Blick lachte Heio:
"Die werden aus Tierdung geformt und im Wind getrocknet. Du siehst, noch eine Ähnlichkeit mehr mit dem Orient. Zisternen im Haus und Mist als Brennmaterial! Ich hab dir doch von den Dungbriketts der ägyptischen und marokkanischen Fellachen erzählt?"
"Na, Tacitus berichtet doch schon: ,Weit im Norden ist ein Land, wo der Ozean zweimal täglich sich weit zurückzieht und wo die Menschen auf künstlichen Hügeln wohnen. Bei Flut gleichen sie in ihren Häusern Schiffern, und wenn der Ozean den Meeresgrund freigibt. Schiffbrüchigen. Es ist ein elend Volk, das den Schlamm des Meeres mehr im Wind als in der Sonne trocknet, um damit im Winter ihre erstarrten Glieder zu wärmen. Und doch halten diese Menschen ihre sogenannte Freiheit für köstlicher als alle Segnungen unserer Kultur.' - Also oder so ähnlich sprach Tacitus."
Das Meer umspielte nun tatsächlich die Warft, und die drei Kameraden freuten sich, daß sie ihre Einer auf Jans Drängen oben auf der Bake in Sicherheit gebracht hatten.
Bald begann das Wasser wieder abzulaufen. Auch schien der Wind etwas nachzulassen. Er wehte aber immer noch frisch aus Nordwest.
Erst in der Nacht konnten sie sich auf den Heimweg machen. Der Mond stand am Himmel und schien über das weite Watt, nur hin und wieder von jagenden Wolken verhüllt. Sie wußten den Weg und konnten auf dem ungefährlichen Grund nach dem Kompaß laufen, aber sie waren doch froh, als der dunkle Schattenriß der Bake deutlich erkennbar vor ihnen aufragte.
An einem der nächsten Tage schien ihnen der Seegang nicht mehr unüberwindlich. Sie brachten ihre Boote zu Wasser, und einer nach dem ändern durchfuhr die Strandbrandung in einem günstigen Augenblick. Sie hielten sich dann zwischen Außen- und Innenbrandung in einer Art Zickzackkurs. Bald paddelten sie gegen die Roller an, die sie zur Strandbrandung treiben wollten, bald ließen sie sich absichtlich etwas zurückdrücken, wenn sie sich der Außenbrandung zu sehr genähert hatten. Dabei fuhren sie unablässig nach Norden. Sie wollten bei Niedrigwasser an der Mündung des Rummellochs sein. Dieser große und lange Priel, oder eigentlich schon Wattstrom, sollte sie nach Pellworm führen. Sie erreichten ihn auch glücklich. Die Brandung blieb zurück, und als sie aufatmend in die Mündung des Priels glitten, war gerade Stillwasser.
Da fiel ihnen plötzlich etwas auf. Der frische Nordwest, der eben noch geweht hatte, war verschwunden. Es war völlig windstill. Sie schauten sich um, ob in der Prielmündung etwa die hohen Sandrücken zu beiden Seiten den Wind abfingen, aber da erstarrten sie.
Hinter ihnen war der Himmel pechschwarz. Während zwei Drittel des Gewölbes noch hell und mit den lichten segelnden Wolken des Nordwests bedeckt waren, war das letzte Drittel im Südwesten von einer finsteren Wand wie von dem Rachen eines grausigen Ungeheuers verschlungen. Sollte die Welt untergehen?
Im gleichen Augenblick jagten sie ihre Boote auf den hohen Sand am Ufer des Wattstroms, zogen sie empor, setzten sich hinein und zurrten Spritzdecke und Öljacke fest. Sie waren kaum damit fertig, als es über sie hereinbrach.
Eine furchtbare Bö heulte in Orkanesstärke über sie hinweg. Sie duckten sich tief in ihren Booten und stützten sich mit den Paddeln auf den Sand. Regen und Hagel fielen so dicht, daß sie das unmittelbar neben sich liegende Boot des Kameraden nicht sahen. Das Heulen der Bö war so stark, daß sie sich nicht durch Schreien verständigen konnten. Im Wattstrom hinter ihnen schien das Wasser zu kochen, meterhoher Gischt und Dampf standen darüber.
Dann war alles vorbei. Der ganze Spuk hatte kaum zehn Minuten gedauert. Nun wehte ein stürmischer und regnerischer Südwest, aber es hatte keine Gefahr mehr. Das Flutwasser jagte das Rummelloch empor, machte ihre Boote flott, und fast ohne Paddelschlag fuhren sie vor dem Wind pfeilschnell auf Pellworm zu. Nun redeten und schrien sie alle zur gleichen Zeit:
"Wenn die Bö nur zehn Minuten früher gekommen wäre, als wir noch in der Brandung saßen, wären wir jetzt weg." "Bei dem frischen Nordwest hätte ich einen so plötzlichen Wetterumschlag nie erwartet. Es war doch gar nicht besonders heiß."
Tatsächlich war der ganze Vorfall höchst ungewöhnlich. Es war dieselbe Bö, in der im Fehmarnsund das Schulschiff Niobe kenterte.
Auf Pellworm bauten sie hinter dem Deich ihre Zelte. Obwohl die Insel eingedeicht ist, stehen die Häuser fast alle auf Warften. Am interessantesten ist die alte Kirchwarft mit der Ruine des Turmes, der das Wahrzeichen der Insel ist. Pellworm hat also eigentlich trotz des Deiches Halligcharakter.
Da das Wetter sich am nächsten Tag besserte, fuhren sie mit achterlichem Wind unter Treibsegel nach Hallig Hooge. Dort war alles violett von der blühenden Bonnestave. Auf dieser größeren Hallig gab es mehrere Warften, und auf den meisten standen auch mehrere Häuser an einem gemeinsamen Fething. War auf Süderoog schon eine Pumpanlage gewesen, die das Wasser aus dem Fething in die vor der Warft gelegenen Tränkbecken für das Vieh leitete, so wurde es hier vielfach noch mit Eimern an einem Schwenkgerüst transportiert.
Die Häuser zeigten nicht den Vierkanttyp, aber hatten auch alle ihre Zisterne für Trinkwasser. Die drei besuchten einige der Warften und konnten mehrere Halligstuben betrachten. Wie auf Süderoog waren die Wände holzgetäfelt, oder sie waren sogar mit den schönen handgemalten blauweißen Kacheln bedeckt - Tapeten würden sich bei der feuchten Witterung nicht halten. Diese friesische Kachelkunst, so konnte Jan berichten, stammt aus Holland. Keine Kachel glich der ändern. Auf der einen waren Schiffe, auf der ändern Windmühlen, Häuser oder Kirchen zu sehen. Auf wieder anderen waren Blumenstücke, Ornamente, Vögel oder gar Darstellungen aus der biblischen Geschichte zu finden. Aber auf den meisten Kacheln sah man doch das Meer, Schiffe und Häuser am Wasser.
An der Wand stand der eiserne Ofen auf hohen Füßen, oft mit messingnen Verzierungen. Auf den Ofenplatten waren Reliefdarstellungen, meist aus der biblischen Geschichte, zu sehen. Geheizt wurden diese "Bilegger" von draußen, von der Küche oder dem Gang aus, so daß kein Schmutz in die Stube kam.
Die Schränke aus schönem dunkelbraunem Nußholz oder gar aus Mahagoni waren oft in die Wand eingelassen. Manche dieser Wandschränke hatten hübsch verglaste Türen, so daß man das Geschirr oder das Silber im Innern bewundern konnte. Sie sahen auch die Türen zu den Betten, die ebenfalls wie Wandschränke in der Wand lagen. Nur zuweilen waren diese "Alkoven" mit einem Vorhang von dem Gemach getrennt.
Sie zelteten an einer Prielmündung, von einer herrlich unberührten Seevogelwelt umgeben. "Die Nähe der Hallig Norderoog macht sich bemerkbar", sagte Heio. Sie hatten sie am Horizont liegen sehen, als sie durch das Rummelloch nach Pellworm fuhren. Heio erzählte von dieser unbewohnten Vogelinsel, während die "Tüten" sehnsüchtig am Abend um ihr Zelt riefen und die kleinen Strandläufer am Saum der ebbenden Wasser entlangtrippelten und eifrig den Schlick nach Würmern durchstocherten.
Der nächste Tag war ein Sonntag, und sie gingen zu der kleinen Halligkirche, um das Innere dieses einfachen kleinen Gebäudes auf sich wirken zu lassen und um zugleich am Gottesdienst teilzunehmen. Im Hintergrund hingen die Bilder der 12 Apostel und davor ein Schiffsmodell mit dem Danebrog, denn vor gar nicht allzulanger Zeit war ja dies alles dänisch gewesen. Von der kleinen hölzernen Kanzel predigte der Pastor. Ernste, dunkel gekleidete Menschen saßen lauschend auf den Bänken, während draußen das Licht über der weiten Hallig leuchtete und Wind und Meer einen Choral spielten, der den dreien schöner und mächtiger dünkte als das Lied hier drinnen.
Am Nachmittag kam ein Boot mit Touristen von Amrum an. Sie besichtigten den berühmten Königspesel, das Muster einer kachelgeschmückten Friesenstube - noch heute haben die meisten Hallighäuser einen solchen Prunkraum, der nur bei Festlichkeiten benutzt wird und der sogenannten "Guten Stube" der Hamburger entspricht. Sie aßen auch "Friesenkeks", ein leichtes Gebäck, und tranken "Teepunsch" dazu, das echte, rechte Halliggetränk, das aus gutem Tee, Zucker und bestem Aquavit - am liebsten dem Aalborger Malteserkreuz - hergestellt wird.
Heio, Jan und Inge aber stiegen in ihre Boote und fuhren über den breiten Wattstrom der Süder Aue nach Hallig Langeneß hinüber, wo sie bei der Warft Hilligenley landeten. Auch auf Langeneß lag eine ganze Reihe von Warften. Es ist ja die größte Hallig. Auch hier sind es meist mehrere Häuser, die auf einer Warft stehen. Sie fuhren in verschiedene breite Priele hinein und besichtigten einige Häuser. Hier war Jan in seinem Element. Er hatte schon früher von Husum aus eine Fahrt durch die inneren Halligen gemacht, hatte Nordstrand, Nordstrandischmoor, Hamburger Hallig, Habel, Gröde, Oland und Langeneß besucht, um zu zeichnen und zu malen. Er kannte viele interessante Winkel und begrüßte manchen der Bewohner als alten Bekannten.
"So kennen wir nun also alle Halligen", meinte Heio, "nur die interessanteste nicht. An Südfall sind wir vorübergefahren."
"Warum ist denn diese Hallig so interessant?" fragte Inge. "Weil unter ihr und vor ihr die Spuren Rungholts im Watt liegen. Ein Bauer und Forscher aus Nordstrand fand zuerst bei Ebbe im Schlick Reste von Warften und Deichen. Man entdeckte eine zerstörte Schleuse und konnte sogar die Spuren der Ackerfurchen im Schlamm erkennen. Hier und da waren die Sootringe zu sehen. Ihr wißt ja, man nennt die Brunnen hier ,Soot', und noch heute sind die älteren nicht aus Ziegeln, sondern aus Grassoden gebaut.
Diese Entdeckung erregte ungeheures Aufsehen. Man hatte die Sage der vor 500 Jahren versunkenen sündigen Stadt oft gehört, sie aber immer für ein Märchen gehalten. Nun wurden durch Funde die alten Mären bestätigt. Besonders der Friesenpastor Dr. Muuß machte sich um die Arbeiten an der altfriesischen Heimatforschung verdient. Allerdings sind es keine Stadtreste, die man fand, sondern nur Bauernland. Aber die Funde reden eine deutliche und packende Sprache."
Heio schwieg. Aber Inge fragte ihn erregt, warum er, wenn er doch davon gewußt habe, sie nicht dorthin geführt habe. "Wir hätten von Süderoog dorthin können. Aber es sprachen drei Gründe dagegen: das Wetter, die Tatsache, daß die Bewohner der Hallig - es steht nur ein einziges Warfthaus darauf - gern ungestört sein wollen und mir nicht persönlich bekannt sind und endlich - das Entscheidendste - eine Mitteilung, daß augenblicklich alle Reste wieder überschlickt und verschwunden seien. Wir hätten also höchstwahrscheinlich doch nichts gesehen."
Inge machte immer noch ein etwas enttäuschtes Gesicht, aber Jan fragte: "Du, mir ist bei deiner Geschichte etwas aufgefallen. Du redest immer davon, daß diese Funde unter der Hallig liegen, und ihr Niveau im Watt muß ja wohl auch fast einen Meter tiefer liegen als die heutige Halligfläche. Dann kann doch die Hallig nicht der Rest eines einst größeren Landes sein?!"
"Du hast recht", erwiderte Heio, "es hat seit jener Zeit eine Landsenkung stattgefunden, die zur Vernichtung vieler Deiche und weiter Strecken fruchtbaren Marschlandes führte. Die mächtigen Meeresbuchten der Zuidersee, des Dollarts und der Jade sind damals eingebrochen. Und heute findet man die Reste einstigen Kulturlandes auf dem Meeresgrund unter dem Hochwasserspiegel.
Aber die Sturmfluten reißen nicht nur Land weg, sie bauen auch auf. Jede Sturmflut, die über das normale Hochwasserniveau hinaufgeht, kann eine mehr oder minder dicke Schlammschicht zurücklassen und erhöht dadurch das Land. So sind die Halligen über den alten Boden emporgewachsen und sind sowohl ein Rest des alten Landes als auch zugleich Neuland. Es ist ja alles aus den vielen Beobachtungen, die wir auf unseren Fahrten machen konnten, so leicht zu verstehen."
Als sie zur Halligkante und zu ihren Zelten gingen, schaute Inge neugierig über den glitzernden Schlick. Aber obwohl die Strömung hier den festeren grauen Ton abbaute und in Schichten und Platten freispülte, waren doch nirgends Reste der großen Vergangenheit zu sehen. Das Meer behielt seine Geheimnisse.
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