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NORDFRIESLANDFAHRT
Im Sommer des Jahres 1932 führten die drei ihre schönste, ereignisreichste, aber auch kühnste und gefährlichste Faltbootreise im Wattengebiet durch. Sie wollten von Hamburg nach Sylt paddeln.
Wie schon oft, ging es die Elbe hinab. Die Inseln und Schlickufer des mächtigen Stromes wurden wilder und unberührter, je näher sie der Mündung kamen. Sie hielten sich an der hannoverschen Seite, zelteten auf Krautsand und am Freiburger Außendeich, blieben einen Tag auf dem weiten Vorland beim Baljer Leuchtturm, weil scharfer Gegenwind herrschte, und fuhren dann in den sich unabsehbar öffnenden Meereshorizont der Elbmündung.
Sie querten die Ostemündung, zelteten beim Hafen von Otterndorf und kämpften sich gegen starken Wind nach Cuxhaven. Sie fuhren quer über die Elbmündung nach dem Dithmarscher Ufer - aber mit größerer Umsicht und besseren Kenntnissen als vor Jahren - und zelteten auf einem Ringdeich im Vorland, der als Tränke und als Zufluchtsstätte für das Vieh diente. Dann ging es hinaus in das im Sonnenlicht flimmernde freie Meereswatt.
Lange Prickenreihen führten sie nach dem Friedrichskooger Hafenpriel und von dort an gelblichen Sänden und glitzernden Schlickflächen vorüber nach Trischen. Seehunde tauchten neben ihnen aus der Flut, und als sie mit der Ebbe im Abendlicht an einem aus riesigen Strombänken bestehenden Außensand vorbeipaddelten, lag dort ein ganzes Seehundsrudel.
In Trischen war eine Vogelfreistätte, in der Tausende von Seeschwalben brüteten, und namentlich Inge wurde nicht müde, den Geschichten des Vogelwarts zu lauschen. Heio begrüßte ihn als alten Bekannten. Eine neue Entdeckung war es für alle drei, als sie hier am Watt einen Säbelschnabler beobachteten, jenen seltsamen Vogel mit dem eigenartig gebogenen Schnabel.
Bei gutem Wetter starteten sie in der Brandungszone und fuhren an mächtigen Prielmündungen vorbei und über große Wattströme auf die Tertiusbake zu, die sich über dem Tertiussand erhebt. Dann setzten sie ihr kleines Treibersegel und glitten mit achterlichem Wind über die spiegelnd helle Salzflut!
"Unwahrscheinlich", sagte Inge, "daß das dieselbe Nordsee sein soll, die wir in Sturm und Unwetter so oft erlebten, daß dort auf Trischen Heio das Wrack sah und die Fahrt mit dem Taucherkapitän unternahm!"
"Ja", meinte Jan und träumte in das hohe Licht, "aber auch dies ist die Nordsee. Es sind die seltenen Stunden, in denen sie ganz tief schläft und in denen ihre wunderbarsten Geheimnisse aus der Flut steigen. Siehst du, wie fern die Küste in der Luft zu schweben scheint? Wie sagt Storm?: Wie Träume schwimmen die Inseln auf dem Meer."
Hinter ihnen tönte ein leises Pochen, das allmählich stärker wurde. Die Krabbenfischer von Büsum kehrten heim vom Fang. Bald überholte ein Fahrzeug nach dem ändern die drei kleinen Boote. Der Geruch der dampfenden Krabbentöpfe wehte herüber, und die am Mast baumelnden Netze brachten einen warmbraunen Ton in die hellen bläulichen und grünlichen Farben.
In Büsum wurde frischer Proviant genommen, und dann fuhren sie sofort wieder ab, um die Flut auszunutzen. Sie hofften, noch bei Hochwasser über die Sandbänke und hohen Schlickwatten der Außeneider hinwegzukommen. Aber sie hatten sich getäuscht. Das Wasser lief schon wieder ab. Vor ihnen tauchten schon Platen und Sande aus der Flut, und so versuchten sie, seewärts zu flüchten. Dadurch kamen sie wieder ganz vom Ufer ab und saßen schließlich doch weit draußen fest. Sie stiegen aus und treidelten ihre Boote in einem flachen Priel stromaufwärts. Plötzlich wurde der aber ganz flach, verzweigte sich aderförmig und war zu Ende. Da standen sie nun, und ihre Boote lagen auf dem trockenen Schlick. Überdies war die Sonne am Untergehen, und ganz im Westen machte sich wieder eine dunkle Wolkenbank bemerkbar. Allen dreien war etwas beklommen zumute. Sie dachten an ihre Erlebnisse auf ihrer ersten Wattenfahrt in der Elbmündung.
Plötzlich rief aber Inge, die einige Schritte vorausgegangen war: "Wir sind auf der Wasserscheide. Da läuft ein Priel die andere Seite runter!"
Und so war es. Nicht weit vor ihnen begann ein neues Wasseradergeflecht, das sich schnell zu einem ansehnlichen, rauschenden Priel vergrößerte, und dieser floß in entgegengesetzter Richtung, gerade in der ihrer Fahrt. Allerdings konnten sie nur ein kleines Stück seines Laufes, der sich vielfach schlängelte, überblicken. Aber sie erkannten von der Höhe dieses Wattrückens schon fern eine Wasserfläche, die sie für die Außeneider hielten.
Nun mußte schnell gehandelt werden. Bevor das Wasser völlig abgelaufen war, galt es, die Boote über die trockene Wasserscheide in den Priel zu bringen, in dem noch Wasser abfloß. Unter Aufbietung aller Kräfte trugen sie die schwerbeladenen Einer einen nach dem ändern hinüber. Zuerst mußten sie die sonst so zart behandelten Fahrzeuge noch über den weichen Schlick ziehen. Einige Muschelbänke machten ihnen große Sorge. Eine lange Strecke stapften sie über das blauschwarze Gewimmel hinweg. Glücklicherweise konnten sie die Boote schon bald treideln, aber trotzdem hörten sie, wie die Muschelschalen an der Haut der Faltboote kratzten.
Sie eilten sehr, denn das Wasser fiel schnell. Aber der Priel wurde auch rasch tiefer und größer, und nun kam der glückliche Moment, wo sie wieder einsteigen konnten. Mit raschen Paddelschlägen fuhren sie, unterstützt von der Ebbströmung, den Priel hinab. Nach einigen Windungen mündete er in einen großen Wattstrom. Das mußte ja nun die Außeneider sein! Aber dann würde eigentlich drüben schon das Eiderstedter Ufer liegen, und da war doch eine große, graue, hohe Wattbank!?
Es dämmerte/ denn die Sonne war schon untergegangen.
Sie entschlossen sich rasch und wandten sich steuerbords gegen den Ebbstrom, so mußten sie ja in die Eider kommen. Die Strömung war nicht stark. In der Stille der Dämmerung hörten sie ein Schnaufen und Plätschern und sahen einen Tümmler sich über die Fläche heben und wieder verschwinden. Es schien ein einzelnes Tier! Aber sie hatten heute keine Ruhe für solche Beobachtungen. Sie wollten gern möglichst bald die Küste erreichen.
Mit einem Male war vor ihnen der breite Wattstrom zu Ende. Sie befanden sich in einer großen Sackgasse, und es blieb ihnen nun nichts anderes übrig, als wieder zurückzufahren, um seewärts aus diesem Schlauch herauszukommen. Gerade als in der hereinbrechenden Nacht die Sicht zu verschwimmen begann, erreichten sie die richtige Außeneider und konnten noch die Tonnen des Fahrwassers erkennen. Fern blinkte schon tröstlich der Leuchtturm von St. Peter herüber.
Sie hielten es nun für das Sicherste, sich an den "Tonnenstrich" im Fahrwasser zu halten. Glücklicherweise war die dunkle Bank im Westen nicht wesentlich größer geworden, und das Wasser blieb ruhig und spiegelglatt wie Öl in der sinkenden Nacht.
Aber sie hatten nicht mit der ungeheuren Ebbströmung gerechnet, die ihnen entgegenkam. Es war eine verzweifelte und mühsame Arbeit, gegen diesen Strom sich von Tonne zu Tonne in die Eidermündung hineinzukämpfen. Es war längst tiefe Nacht geworden. Ein wunderbares Meerleuchten flammte in ihrer Bugwelle und in ihren Paddelschlägen auf. Das Kielwasser war ein Feuerstrudel aus flüssigem, brennendem Silber. Alle drei waren trotz der Müdigkeit und der Anstrengung, die die letzten Kräfte verlangte, wie verzaubert von dem Bild und wurden immer wieder von den im dunklen Wasser scheinbar aus dem Nichts aufflammenden Feuerfunken unmittelbar unter ihren Händen gebannt.
Es war nach Mitternacht, als sie endlich einen dunklen Steindeich vor sich aufragen sahen. Sie kamen gerade bei Tiefebbe an. Mit vieler Mühe, auf den glitschigen Steinen ausrutschend, schleppten sie Boote und Sachen hinauf, bauten rasch ihre Zelte und schliefen ohne Abendessen wie die Toten ein.
Nachdem sie gründlich ausgeschlafen hatten, holten sie sich am ändern Morgen Milch und Eier, Brot und Butter von den Bauern und fuhren bei Hochwasser ab. Es war immer noch ganz ruhiges Wetter. So gelang es ihnen, um den großen Sand von Eiderstedt und St. Peter herumzufahren. Die Badegäste bestaunten die plötzlich auf der Nordsee auftauchenden Faltboote, und besonders erregte es beträchtliches Aufsehen, daß in dem einen Boot eine junge Dame saß.
Es machte den dreien Spaß, auch einmal mitten im Gewimmel eines Bades ihr Mittagsmahl zu verzehren. Sie mußten als Windschutz und als Deckung gegen den Sandflug sogar ein Zelt aufschlagen, was die Sensation erhöhte.
Dann aber wollten sie das gute Wetter ausnutzen und den breiten Heverstrom queren, der sie noch vom Gebiet der eigentlichen Halligen trennte. Sie fuhren außerhalb der leichten Brandung an der langen, langen Sandbank nach Norden. Als diese aufhörte, kam ein breiter Wattstrom aus dem Wattengebiet zwischen Ording und Westerheverleuchtturm, der rot-weiß herüberleuchtete. Wilde Kolke, Strudellöcher und Strombänke kennzeichneten diese Stelle. Ähnliches hatten sie auch an den Ostecken der ostfriesischen Inseln erlebt. Nun sahen sie schon wie zwei Punkte die Hallig Süderoog und die Bake auf Süderoogsand.
Nach kurzer Beratung faßten sie den Entschluß, die Überquerung dieser gewaltig breiten Wattstrommündung zu wagen. Sie wählten als Ansteuerungspunkt die Hallig, um nicht zu weit nach draußen zu kommen. Nach stundenlanger Paddelei über nur leicht bewegtes Wasser kamen sie in die Nähe der jenseitigen Wattgründe und sahen nun schon die niedrige Halligfläche wie einen Strich und darüber die einsame Warft mit dem einzigen Haus aufragen. Heveraufwärts erkannten sie die Hallig Südfall, die auch nur ein Haus auf einer Warft besitzt und vor der die Reste Rungholts im Watt liegen. Als Fata Morgana in der Luft schwebend, glaubten sie ganz schwach noch Nordstrand und Pellworm zu erblicken, oder besser, sie ahnten einzelne Punkte davon. Nur der alte Kirchturm Pellworms war deutlicher zu erkennen.
Dann aber wandten sie sich seewärts. Sie wollten einige Zeit auf der Süderoogsandbake bleiben. Hoch und hell stieg die Sandbank, die an Scharhörn erinnerte, vor ihnen aus der Flut. Abermals trafen sie hier draußen bei dem ruhigen Wetter eine kleine Herde von Tümmlern, die aber ein ganzes Stück von ihnen entfernt ihre dunklen Rücken über die helleuchtende Oberfläche hoben. Die Faltbootfahrer landeten in der Zone der Brandungssandbänke in unmittelbarer Nähe der Bake. Dunkel und gewaltig ragte sie vor ihnen auf. Oben war ein bedeutend größerer Raum als auf der Scharhörnbake mit einem umlaufenden Verandagang, mit Fenstern und mehreren Betten, mit Tisch und Bänken und mit allen Bequemlichkeiten.
Während all der vergangenen Tage hatten sie nicht viel miteinander gesprochen. Der vollkommene Gleichklang des Erlebens, das gleiche Aufgehen in der Unendlichkeit der Natur erzeugt bei Bergkameraden ebenso wie bei den Wanderern über den Wüsten des Meeresgrundes eine schweigende Gemeinsamkeit, die köstlicher ist als alle Worte.
Nur in den Tagen auf Trischen, die ihnen durch die Geschichten des Vogelwartes viel Neues brachten, waren sie gesprächiger gewesen. Draußen in den Watten waren sie jetzt mit allen Erscheinungen vertraut. Sie wußten, warum der Schlick um sie herum raunte. Sie kannten die Muscheln und Schnecken, die Würmer und Krebse des Watts. Sie wußten die Vogelspuren und alle Zeichen des mannigfachen Lebens um sie herum zu deuten. Die Lebensgewohnheiten der Fische, der Robben und der Tümmler waren ihnen bekannt. Sie hatten Wind und Wetter fast im Blut und träumten nachts von den vielfachen, gleitenden und reinen Formen und Farben des Watts.
Als sie jetzt aber im ruhigen Abendsonnenschein oben auf der Bake saßen und über den weiten Sand blickten, über das offene Meer und über das ferne Reich der Halligen, da kam eine große Freude über sie, daß sie hell in die menschenferne Einsamkeit hineinjauchzten.
Den nächsten ruhigen Tag benutzte Heio, um draußen vor den Brandungsbänken mit seinem Netz aus feiner Seide Plankton zu fischen.
"Diese Seidengaze," so erklärte er auf Inges Frage, "wird von den Müllern zum Sieben des Mehles verwendet und heißt deshalb Müllergaze. Sie quillt nicht im Wasser, und deshalb ist die Maschengröße immer dieselbe."
Dann entleerte er in ein Gläschen mit Seewasser einen Tropfen des grauen Schleimes, den das untere Ende des Netzes barg. Wie staunten die beiden, was da alles im Wasser herumhüpfte, ruderte und schwamm. Heio hatte einen Algensucher mitgebracht, ein etwa hundertmal vergrößerndes Mikroskop. Auf der Glasplatte des Objektträgers unter der Linse des Mikroskops zeigten die bizarren Planktonwesen erst ihre ganze Formenfülle. Da gab es seltsame Kieselalgen, die wie Spitzenkissen aussahen, Ruderfußkrebschen und Cladozeren, winzige Larven von Borstenwürmern und Krebsen, da zeigten sich die seltsam geformten Larven der Seeigel und Seesterne, dazwischen Hydromedusen, winzige Quallen, die nicht viel größer waren als ein Stecknadelkopf. Da zappelten die fremdartigen Appendikularien, mit einem Ruderschwanz versehene hochorganisierte winzige Wesen, so groß wie ein Komma. Da trieben auch zu Massen die kleinen, hellen, apfelförmigen Bläschen der Noctilucen, der Meerleuchttierchen, die auf Berührungsreize hin leuchten und die ihnen die zauberhafte Nacht vor der Eidermündung schenkten.
Aber das Schönste waren doch die Rippenquallen, die man auch als Stachelbeerquallen bezeichnet. Als bis haselnußgroße, glasklare Kugeln rollten sie oft blitzend im Schaum der Welle auf den Strand. Im klaren Seewasser des Glases verschwanden sie fast völlig, so durchsichtig waren sie. Nur Bänder von Flimmerplatten, die wie die Längenkreise beim Globus über ihren Körper liefen, blitzten in allen Regenbogenfarben wundervoll irisierend im Rhythmus des Plättchenschlages auf. Wenn die Tiere sich im Wasser entfalteten, ließen sie auch zwei lange Fäden hinter sich herschleppen, die ihnen als Leimfäden und Fangruten dienten. Es war mit das schönste Geschöpf, das sie in der Nordsee kennengelernt hatten.
Am kommenden Tage war es mit der Planktonfischerei zu Ende. Ober Nacht hatte sich Wind aufgemacht, und am Morgen stand auf dem Sand eine weißschäumende, donnernde Brandung. Die Bake ächzte und stöhnte unter den Windstößen, und das Grollen der See dröhnte unaufhörlich in den Ohren der drei einsamen Menschen. Aber der Himmel ließ zwischen den Wolken noch hier und da die Sonne sehen. Auf der Bank war heftiges Sandtreiben, daß weiße Bänder stäubend wie flatternde Fahnen darüber hinzogen.
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