Werner Wrage - "Faltbootfahrten im Wattenmeer - Erlebtes Watt"

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Erlebtes Watt - Faltbootfahrten im Wattenmeer

INSELFAHRT
An einem frühen Morgen aber brachen sie die Zelte ab, trugen die Boote und Sachen wieder weit ins Watt hinaus und verließen mit der auflaufenden Flut Juist, um alle ostfriesischen Inseln kennenzulernen. An den großen Hotels Norderneys glitten sie vorüber und suchten sich auch auf dieser Insel das einsame Ostende als Lagerplatz aus, wo sich nur eine kleine Düne auf einer riesigen Sandzunge erhob.
Am nächsten Tag fuhren sie vor der Küste Baltrums vorüber, da es gerade Ebbe war und ihnen so das innere Watt versperrt schien. Es war ihnen wieder ein Bedürfnis, nach der Wattenfahrt die grünblauen, klareren Wellen der offenen See unter dem Kiel zu haben und sich in rhythmischem Heben und Senken einem leuchtenden Ziel zutragen zu lassen. Auch auf dieser Fahrt sahen sie Tümmler, die ganz nahe an ihren Booten vorüberschwammen. Die drei Faltbootfahrer landeten im Brandungspriel vor den Westdünen Langeoogs unweit des Badeortes. Dort zelteten sie in einer Dünenschlucht. Flinthörn hieß diese westliche Dünenlandschaft der Insel, die ihnen ebenfalls schöne Tage am Meer schenkte. Sie besuchten von da aus den Ort mit seinem bunten Badeleben, mit Strandkörben, Burgen und Wimpeln.
Als sie abgebaut hatten und wieder starteten, war der Wind aufgefrischt. Sie beschlossen, sich mit der steigenden Flut hinter der Insel über das Watt zu schleichen. Sie fuhren bis zum Ostende, wo sie abermals in den Dünen ein Standquartier aufschlugen. Auf den Wattwiesen, die sich im Schutz der Insel durch Anschlickung gebildet hatten, fanden sie außer Halligflieder, silbergrauem Wermut und Grasnelken auch unzählige Champignons, von denen sie sich ein leckeres Mahl richteten.
Als sie nach einigen Tagen von dort abpaddelten, war Hochwasser. Sie kreuzten trotz hoher und steiler Wellen das Seegatt und landeten vorschriftsmäßig im Hafen von Spiekeroog am Bollwerk. Dort vertrauten sie die Boote der Aufsicht einiger Wattfischer an und gingen in den Ort, um einzukaufen. Der lag hinter dem Dünenwall lieblich im Grün belaubter Bäume, ein sonst auf den windumbrausten Nordseeinseln seltenes Bild, denn der Sturm duldet keinen Baumwuchs.
Nachdem sie den langen Weg zum Hafen durch Sand und Gras, beladen mit Trinkwasser und Verpflegung, wieder zurückgelegt hatten, bestiegen sie abermals ihre Boote, um Wangerooge zu erreichen. Doch sie waren zu leichtsinnig gewesen. Als sie abfuhren, schien ihnen das Wasser noch hoch genug, um den Wattrücken hinter der Insel zu queren. Aber bald kamen sie auf Grund. Sie wollten treideln, doch das Watt war sehr weich und tief schlickig. Auch die Insel zu erreichen, gelang ihnen nicht mehr.
Im Priel fanden sie riesige Miesmuschelbänke. Zu vielen Millionen hatten sich die großen blauschwarzen Muscheln aneinandergesponnen, die lebenden über die toten. Im flachen Wasser waren ihre Boote schon häufig auf solchen Bänken aufgelaufen. Nun bei Niedrigwasser dehnten sich Hunderte von Metern die trockenen schwarzen Muschelfelder. Ein unaufhörliches Wispern und Schmatzen drang aus diesen lebenden Bänken.
Die drei Kameraden konnten nichts anderes tun, als auf die Flut warten. Sie betrachteten das Gewimmel um sich herum. Da waren nicht nur Miesmuscheln, sondern dazwischen auch Herz- und Pfeffermuscheln und die wunderhübschen rosaroten Plattmuscheln. Da krochen Würmer und Schlickkrebschen. Da rannten kleine Muschelräuber mit hoch erhobenen Scheren seitwärts davon und ebenso große Strandkrabben. Da fanden sie auch Seesterne, die sich an den Muscheln mästeten, und eine bunte Welt von Schnecken. Dazwischen krochen die verschiedenartigsten Würmer, glatt und glänzend oder bunt und borstig.
Mit seltsamem metallischem Ruf flogen Regenpfeifer- und Strandläuferschwärme vorbei, schwenkten ein, daß ihre weißen Unterseiten in der Abendsonne blitzten und es schien, als flimmerte plötzlich eine Wolke über dem Watt. Gleich darauf sah man überall die kleinen Vögel geschwind wie graue Bälle über die Watten und Muschelbänke laufen. Hier und da hielten sie an, um rasch etwas aufzupicken. Und plötzlich stob der ganze Schwärm empor, abermals als weiße Wolke aufblitzend, und verschwand über dem Watt.
Auch die Austernfischer stellten sich ein mit ihrem schwarz weißen Gefieder, den roten Beinen und dem roten Schnabel.
Während aber in der Stille des weiten einsamen Schlickwatts dieses urwüchsige Leben sich den drei Faltbootfahrern enthüllte, war die Sonne gesunken und im Begriff unterzugehen. Mit Schrecken sahen sie, daß im Westen eine große dunkle Wetterwand stand. Jetzt, wo sie die Flut herbeisehnten, kam sie so unendlich langsam. Und es wurde so rasch dunkel. Würden sie sich zurechtfinden können, wenn das Wasser sie befreite?
Nur langsam stieg die Flut, und immer lag vor ihnen noch ein höherer Wattrücken. Schließlich war es völlig Nacht. Zwar sahen sie das Leuchtfeuer von Wangerooge durch die Dunkelheit. Aber sie fürchteten mit Recht, in der Nacht die Strömungen und die Abdrift nicht richtig beurteilen zu können. Sie hatten noch deutlich die Erinnerung an ihre Erlebnisse in der Elbmündung vor Augen.
Endlich kam ihnen eine Flutwelle von der anderen Seite entgegen, und nun glaubten sie, frei fahren zu können. Sie versuchten mit allen Mitteln, Wangerooge zu erreichen. Aber gleichzeitig hatte sich Seegang aufgemacht. Kalter Wind blies ihnen entgegen. Zeitweilig sprühte ihnen eisiger Regen ins Gesicht. Sie spürten, daß sie eine starke Strömung abtrieb, aber sie konnten die Stärke und die Richtung dieser Abdrift nicht erkennen.
Nur das tröstliche Feuer war noch immer da. Mitunter schien es ihnen zwar, als würde es kleiner und kleiner. Entfernten sie sich in Wind und Wellen der grausigen Nacht immer weiter von ihm?
Nahm denn diese Nacht gar kein Ende? Es mußte doch längst wieder ebben! Und es war so dunkel. Längst hatten ja die düsteren Wolken Mond und Himmel verschlungen. Plötzlich sahen sie unmittelbar vor sich eine Graskante. Irgendwo dahinter meinten sie Dünen zu erkennen. Es war mit einem Male still, und das Brausen von Wasser und Wellen blieb hinter ihnen. Da stiegen sie mit steifen Gliedern aus den Booten. Sie waren auf Wangerooge gelandet.
Sie suchten sich einen etwas höheren Platz zum Zeltbau und schliefen fest, bis sie am Morgen starker Wind weckte, der ihnen einige Zeltpflöcke ausgerissen hatte. Die Flut kam schnell. Das Vorland tauchte unter. Sie mußten die Zelte und die Boote bis in die Dünen retten.
Fast eine Woche hielt sie der Sturm auf der Insel, dann kam wieder ruhiges Wetter. Sie fuhren zu der Ostbake hinaus und lasen dort in der Stube den schönen Spruch, den der Bakenwächter, der den Wasserstand beobachten sollte, angebracht hatte:

Ehre sei Gott in der Höhe!
Er schuf das Meer so groß und weit
Voll Licht und Wind und Unendlichkeit!
Und tat damit seine Absicht kund,
Daß nicht ein jeder Lumpenhund,
Womit die Erde so reichlich gesegnet,
Dem fröhlichen Seemann da draußen begegnet.
Ehre sei Gott in der Höhe!

Von draußen glänzte das Meer durch das Fenster in die kleine Stube, zu der sie auf einer Leiter hinaufgeklettert waren, um sich noch einmal nach dem Weg zur Mellumplate zu erkundigen. Dann stiegen sie hinab zu ihren Booten, und mit der aufkommenden Flut liefen sie in die Außenjade ein.
Am Horizont stand die Bake von Minsener Old Oog. Viele Strömungsleitwerke verrieten die Nähe eines Hafens. Aber das Watt war immer noch groß und wild. Nur kurze Zeit hielten sie sich auf der Sandbank Minsener Old Oog und auf der Bake dort auf, um dann die Fahrt zur Mellumplate zu wagen. Es war ruhiges Wetter und nur leichter Wind.
Nach einigen Stunden hatten sie die breite Außenjade - wenn auch mit einigem Herzklopfen - überwunden.
In der klaren ruhigen Luft sahen sie nun eine Erscheinung, die sie schon oft im Watt beobachtet hatten. Die Sandbank vor ihnen schien in der Luft zu schweben. Heio machte seine Kameraden darauf aufmerksam und nannte es eine richtige Fata Morgana. Er erzählte, wie er in der Wüste oft geglaubt habe, einen See vor sich zu sehen, und wenn er herangekommen sei, hätte nur die heiße Luft auf dem Boden geflimmert. So hatten sie bei ihren Wattwanderungen um Scharhörn oft geglaubt, zwischen sich und der Bake schon einen breiten Flutstreifen zu haben. Aber beim Naherkommen erkannten sie, daß das Watt dort ganz trocken lag und nur die Luftspiegelung sie genarrt hatte.
"Aber wie kommt das nur zustande?" wollte Inge wieder wissen. Heio versuchte, es ihr zu erklären.
"Die dünne heiße Luftschicht, die sich durch die Bestrahlung auf dem Boden bildet, ist ein Medium anderer Dichte und bricht und reflektiert die Sonnenstrahlen. Die dauernd sich loslösenden und aufsteigenden Warmluftschlieren täuschen eine Wellenbewegung der scheinbaren Wasserfläche vor und lassen die Insel, wie in der Luft schwebend, zuweilen schwanken und merkwürdig verzerrt erscheinen, wie eben jetzt!"
Sie waren allmählich schon näher gekommen und erkannten die spitze Pyramide der Bake mit dem Zufluchtsraum und dahinter den niedrigen Dünensaum. Auf einer Sandbank davor lag eine große Herde Seehunde, die sich schwerfällig ins Wasser wälzte. Als sie auf Mellum landeten, kam ihnen ein Mann entgegen, der einzige Bewohner der Insel, der Vogelwärter, der von dem Verein für Vogelschutz dort eingesetzt worden war, um die Insel gegen Eierräuber und andere unvernünftige Menschen zu sichern.
Er lud sie in seine Bake ein und durchstreifte mit ihnen die Dünen, zeigte ihnen die Nester und die ausgeschlüpften Jungen, erzählte ihnen von seinen Beringungsversuchen und von den neuesten Ergebnissen der Vogelzugforschung. Er borgte ihnen sein gutes und stark vergrößerndes Fernglas und zeigte ihnen Vogelaufnahmen, die er mit einem besonders konstruierten Teleobjektiv aufgenommen hatte. Er war sonst ein eigenartiger und schweigsamer Mensch, der ganz in seiner Beschäftigung aufzugehen schien und dem die Gegenwart dieser Tiere lieber war als die der Menschen. Er erzählte ihnen auch von der Vogelinsel Memmert bei Juist, die Otto Leege gegründet hatte, und von anderen friesischen Heimat- und Wattforschem. Heio berichtete von seinen Erlebnissen auf der Vogelinsel Trischen. So verging der Tag schnell. Sie schliefen in der Bake. Am ändern Morgen verabschiedeten sie sich von dem Einsiedler von Mellum. Ihre Boote trieben mit der kommenden Flut in die Jade hinein und damit dem Ende ihrer Fahrt entgegen.
Als der gelbliche Sand mit der Bake und der kleinen Düne hinter ihnen versank, wiederholte Heio gedankenvoll den Spruch, den er im Zimmer des Vogelwarts gelesen hatte: "Wer die Menschen kennt, liebt die Tiere!" Aber Inge widersprach energisch: "Ein dummer arroganter Spruch! Trotz aller Intoleranz und Gemeinheit in der Welt sollte man die Menschen lieben und damit diese bösen Eigenschaften bekämpfen. Dieser Spruch im Zimmer eines Arztes oder eines Beamten würfe ein trauriges Licht auf den Besitzer!"

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