Werner Wrage - "Faltbootfahrten im Wattenmeer - Erlebtes Watt"

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Erlebtes Watt - Faltbootfahrten im Wattenmeer

NACHT IM WATT
Die riesigen Molenköpfe der Schleusen des Nordostseekanals glitten vorüber. Ein Kabelleger fuhr gerade hinaus. Da standen noch hohe und dicke Leuchttürme, und eine Gruppe Menschen schaute ungläubig auf die drei winzigen Boote, die da unten in der Tiefe auf- und abwogten und in die Weite der Elbmündung hinausfuhren. Dann war noch ein Deich zu sehen, ein grüner Wall, hinter dem einige Baumkronen und die Dächer von Häusern hervorsahen, dunkle Strohdächer, rote Ziegel und helle Giebel. Zuletzt blieb auch das zurück, und nur die Weite des leise singenden und ebbenden Wassers war um die drei. Stunde für Stunde!
Ein kleines Fischerboot töffte mit seinem Glühkopfmotor vorüber. "Fohrt man int twete Lock int Watt rin!" gab der Fischer den Kurs auf Trischen den Fragenden an. Ja, das Watt! Da war es nun. Überall tauchten grauglitzemde Schlickflächen und gelbliche Sandbänke aus der Flut. Oft fand das Paddel Grund, und es war schwer, die Fahrrinne zu halten. Dann aber sah Inge die ersten Pricken, jene etwa 7 Meter hohen Birkenstämme, die der Bakensetzer in Abständen von 100 Metern oder mehr an den Rändern der Wattströme oder Priele in den Wattboden steckt. Da die normale Flut etwa 3 Meter, die Sturflut bis etwa 5 Meter aufläuft, so schaut immer noch ein Stück der Pricke heraus und verrät dem Kundigen den Weg zum Hafen oder den Rand einer gefährlichen Sandbank, die bei Flut unter dem Wasser verborgen liegt. An manchen Stellen stehen die Pricken dicht; aber hier, wo das eigentliche Fahrwasser weit ab verlief, standen sie so weit, daß man kaum von einer zur nächsten sehen konnte.
Die Sonne neigte sich schon nach Westen, und mit dem Abend nahm die Beklemmung zu. Würde es ihnen gelingen, die Insel Trischen zu erreichen?
Von der Dithmarscher Küste war nichts zu sehen, nur grenzenlose und unabsehbare Wattflächen dehnten sich dort. Im Süden lag unendlich fern und eben noch erkennbar Cuxhaven; aber die ungewissen Silhouetten verschwammen schon in den violetten Schleiern des Abends.
Dat twete Lock int Watt? Wo war das? Plötzlich hörten sie ein Rauschen in der abendlichen Stille, das stärker und stärker wurde. Eine Reihe von Pricken war voraus zu erkennen. Und dann war da eine breite Prielmündung, aus der das Wasser rauschend hervorströmte. Am Prielufer standen auch die Birkenstangen. Das mußte das erste Loch im Watt sein.
Weiter an der Wattkante! Das Wasser schäumte anders an den Paddeln. Die Boote schienen anders zu gleiten. Es war schon Salzflut des Meeres, was sie umgab. Die Sonne ging unter. Wunderbar war das goldrote Leuchten, das hinter einer fernen Wolkenwand vom Westen über den ganzen Himmel flammte. Im Türkis des Zenits schwammen rosafarbene und hellgoldene Federwölkchen, und im Osten stand eine eigentümliche rotviolette Dämmerung. Die warmen plastischen Farben der späten Nachmittagsstunden, die gelblichen, bräunlichen und grauen Töne des Watts, dunkelten. Nur das Wasser flimmerte in durcheinanderlaufenden Perlmuttfarben. Klagend schrien ein paar Möwen, und in der unendlichen Stille hörte man das tiefe melodische und langgezogene "Tüüt-Tüüt" der Rotschenkel, das die Seele des Watts in sich zu bergen scheint.
Die drei sagten nichts. Viel später haben sie einmal von ihren Empfindungen in dieser Stunde gesprochen. Es war ihnen, als hätte sich ein geheimnisvolles Tor unendlich weit geöffnet und sie seien aus der Endlichkeit unserer Welt in eine andere hinübergeglitten. Längst waren die Ufer zurückgetreten und verschwunden. Keine Spur menschlichen Seins war um die drei. Nur die Urlaute einer gewaltigen Natur durchzitterten die singende Stille, und aus den ebbenden Wassern tauchte das Watt, fremd, unbegreiflich. Wie am ersten Schöpfungstage hob sich eine neue, leere, unbekannte Welt empor, voller Rätsel und Gefahren und schauerlicher Wunder.
In das mystische Grauen dieser Stunde aber klang von neuem ein Rauschen, unheimlicher in der sinkenden Dämmerung. Wiederum eine große Prielmündung! Hier mußte es sein. Stand da eine Pricke? Einer behauptete, er sähe welche. So fuhren sie hinein und kämpften sich gegen den starken Strom vorwärts. Bald hier, bald da aber gerieten sie auf Grund. Immer flacher wurde es.
Inge gab es zuerst auf, und die andern sahen ihren schlanken Körper in der hereinbrechenden Nacht sich vor dem helleren Himmel abheben, als sie ausstieg und watend ihr Boot prielaufwärts treidelte. "Vorsicht! Es kann hier Triebsand geben", schrie Heio. Dieser erste laute Ruf klang seltsam hallend, wie in einem riesigen leeren Kirchenschiff. Dann patschten alle drei schweigsam durch das flache Wasser. Es war recht mühsam. Alle Augenblicke brach einer von ihnen bis zum Knie im Schlick ein oder geriet unversehens an eine tiefe Stelle in dem unsichtigen Wasser des Priels. Schließlich war ihnen auch das letzte Wasser unter den Booten weggelaufen, und die lagen nun auf Schlamm und Sand fest und unbeweglich. Es blieb den dreien nichts übrig, als auf die Flut zu warten.
Die erzwungene Untätigkeit legte sich lähmend auf ihr Gemüt. Die Stimmung von vorhin kam stärker zurück. Jetzt, wo sie nicht paddeln konnten, wo sie nichts zu tun wußten als zu warten, fühlten sie sich dieser fremden und unheimlichen Welt ausgeliefert. Sie waren einsam und verlassen, hilf- und machtlos einer unbekannten Urwelt ausgesetzt. In die Stille drang ein unaufhörliches leises Wispern und Knistern aus dem Schlamm ringsumher. Heio spürte plötzlich, daß Inge zu ihm getreten war und wie zufällig seinen Arm berührte. Eine warme Welle flutete in sein Herz, in dem die Kälte der Urangst gewesen war, eine ganz zarte Regung, daß er nicht allein vor Gott stand. Aber das Raunen und die Stimmen im Schlick blieben.
Jan beschloß, da es kühl wurde, sich ins Boot zu setzen. Er schien am wenigsten von dieser Stimmung angegriffen. Heio und Inge wollten zur Wattkante, um das Steigen der Flut abzuwarten. So hatten sie etwas zu tun. Sie stapften durch die sinkende Dämmerung quer über den Wattrücken zu der in dunklem Silber fern gerade noch erkennbaren See. Zäh haftete der Schlick an ihren Füßen. Sie hielten sich an den Händen, um das Gleichgewicht zu halten. Endlich standen sie am Wasser. Es war ganz still. Glatt und unbewegt lag die spiegelnde Fläche. Es schien Stauwasser zu sein. Sie machten sich parallele Marken im Schlick, um das Steigen der Flut verfolgen zu können. Aber lange geschah nichts. Es wurde immer dunkler und dunkler. Nur im Nordwesten stand noch eine fahle dämmernde Helle, vor der sie sich wie schwarze Schatten bewegten. Kaum konnten sie noch die Marken erkennen.
Da! - Endlich! Der erste Strich tauchte unter Wasser. Ganz lautlos kam die Flut. Der zweite und dritte verschwand. Jetzt wandten sich die zwei, um zurückzugehen. Sie erschraken, wie dunkel und undurchdringlich die Nacht vor ihnen auf dem Watt lag. Wo waren ihre Fußstapfen? Welche Richtung sollten sie einschlagen? Nun hörten sie auch das Knistern der steigenden Flut. Sie versuchten sich nach dem helleren Schein am Horizont zu orientieren und schlugen auf gut Glück eine Richtung ein. Aber nach einigen hundert Metern schob sich flüsternd etwas Blasses, Glänzendes ihnen entgegen und umströmte schmeichelnd und kühl ihre Füße. Die Flut kam aus einer anderen Richtung ihnen zuvor.
Sie standen still, und ihr Herz klopfte so, daß sie meinten, der andere müsse es vernehmen. Leises Rauschen klang aus dem Dunkel. Da legte Heio die Hände an den Mund und schrie in die Nacht: "Jan, wo bist du?" Stille! Nichts antwortete, nur das Rauschen der steigenden Flut, die schon um die Beine zu quirlen begann. Einzelne glimmende Funken zuckten im dunklen Wasser auf und erloschen. Immer mehr wurden es. Meerleuchttierchen! - Noch einmal der Schrei in die Nacht und wiederum keine Antwort; - und dann ein Grauen, eine wahnsinnige Angst, die die Sinne rauben wollte. Inge krampfte sich plötzlich an Heios Arm und flüsterte heiser: "Laß uns doch laufen!"
"Ruhe, Inge! Wir müssen erst wissen, wohin!"
"Da hinten scheint das Watt doch noch trocken."
"Aber dann kommen wir von den Booten weit ab."
Sie versuchten, mit ihren Augen die Dunkelheit zu durchdringen. Waren das da nicht ferne Leuchtfeuer? An und aus gingen sie, an und aus.
"Warum haben wir die Seekarte nicht genau angesehen?" flüsterte Heio vor sich hin. Ganz leise hörte er seinen Namen. Es war Bitte, Beschwörung, Vertrauen und Abschied. Ihm war, als hätte Inge nie so viel gesagt, wie in diesem Wort.
Es riß ihn empor, und er begann, eiskalt zu überlegen. Wie war der Wind gewesen? Wie lag der Priel zur Wattkante, und wie lange waren sie quer gelaufen? Konnte diese ganz ferne Lichterhäufung am Horizont nicht Cuxhaven sein? Ja, das mußte stimmen. Dann durften sie sich aber nicht verleiten lassen, seitwärts auf den dunklen Wattrücken zuzulaufen. Dann mußten sie geradezu mitten durch das Wasser.
Rasch faßte er die Hand Inges und rannte mit ihr aufspritzend vorwärts, daß das Meerleuchten schaurig hinter ihnen auffunkelte. Plötzlich wurde das Wasser flacher. Trockener, schlickiger Wattgrund war wieder unter ihren Füßen. Vorwärts liefen sie. Hin und wieder zerriß ihr Schrei die Nacht. Von trockenen Wattinseln platschten sie wieder in strudelndes Wasser und wieder auf trockenes Watt, stolpernd, rutschend und alle Augenblicke einsinkend im zähen Schlick.
Oft schaute Heio sich um. Stimmte die Richtung noch? Sie keuchten beide vor Anstrengung. Würden sie es schaffen? Würden sie die Boote oder das Ufer erreichen, oder mußten sie in Nacht und Dunkelheit wie auf einem fremden Stern vergehen? Sie mußten doch längst an den Booten vorüber sein.
Plötzlich wurde das Watt deutlich höher, aber im gleichen Augenblick stürzte Heio den unterwaschenen Prallhang eines Priels hinab. Er riß Inge mit sich, und das Wasser schlug über ihren Köpfen zusammen.
Als sie sich prustend aufgerichtet hatten, sahen sie unmittelbar am Prielrand eine Besenbake, ein Pricke, vor sich.
Und nun erkannten sie ihren Priel. So schnell es ging, wateten sie weiter. Jetzt wurde es flacher. Sie riefen. Eine gleichmütige Antwort scholl aus dem Dunkel. Wie ein Weinen schüttelte sie das Glück, gerettet zu sein.
Und dann - ja, dann sahen sie Jan. Er hatte die Boote höher aufs Watt geschleift. Ein rötlich-bläulicher Schein daneben! Ein summendes Geräusch! Und - Jan, der am Kocher hantiert hatte, stand vor ihnen in der eben noch toderfüllten Nacht.
Sie lachten und schrien. Inge flog dem verdutzten Jan um den Hals und küßte ihn. Heio spürte dabei einen kleinen Stich der Eifersucht, aber auch beglückend ein Gefühl unbändigen Hungers. So rissen sie sich das nasse Sportzeug vom Leibe, erzählten und wunderten sich, daß er die Rufe nicht vernommen hatte. Sie standen im Dunkel neben dem rasch anschwellenden Priel, zogen sich beglückt den warmen flauschigen Trainingsanzug über die nackten Glieder und wußten ihr Boot neben sich, ihr Boot, das Leben und Rettung bedeutete.
Aber noch sollten die Aufregungen der Nacht nicht vorüber sein. Sie setzten sich in die Boote, warteten, bis diese flott wurden, und wollten sich nun durch die Flut prielaufwärts treiben lassen. Aber es war unmöglich. Kaum hob die Flut das Boot vom Schlammgrund, da wurde das Heck wie von unsichtbarer Faust herumgerissen. Sie mußten laut rufen und hatten trotzdem Mühe, beisammen zu bleiben.
Ein Wattrücken lag zwischen ihnen und dem Horizont, so daß die Leuchtfeuer nicht zu erkennen waren. Aber nun stieg das Wasser rasch, und bald sahen sie wieder die fernen tröstlichen Feuer aus dem Reich der Menschen in ihre unwirkliche Welt hineinleuchten. Aber sie kreisten seltsam um sie herum. Eben waren sie noch backbord und nun schon steuerbord. Die Boote waren das willenlose Spiel unberechenbarer Strömungen in der tiefen Nacht geworden.
Es half nichts. Sie mußten sich eine feste Richtung an den Feuern suchen und fuhren geradlinig, so gut sie konnten, bis sie festsaßen. Dann warteten sie wieder, bis das Wasser gestiegen war, und glitten weiter über den flachen Grund.
Bei jedem Paddelschlag sprühten tausend Funken aus dem dunklen Wasser, und ein geheimnisvoller Feuerstrudel zog im Kielwasser hinter den Booten her.
Aber es kam noch schlimmer. Die Ungewisse Helle, die den Nordhorizont umgab, verschwand. Eine drohende Wetterwand zog von Nordwesten auf und umfaßte bald das halbe Himmelsgewölbe, es mit tiefem Schwarz überziehend. Es wetterleuchtete darin, und bei dem ungewiß aufzuckenden Schein sah das drohende Unwetter mit seinen zerrissenen Wolkenbildern erst recht unheimlich aus. Wind machte sich auf, und kleine unangenehme spritzende Wellen liefen über Vorschiff und Spritzdecke. Die Augen brannten. Sie erschauerten vor Müdigkeit und Überanstrengung. Es wurde kalt und begann zu regnen. Die Leuchtfeuer verschwanden. Alles schien sich gegen die drei verschworen zu haben. Aber nach ihrem Erlebnis fürchteten sie Gewitter und Sturm nicht mehr. Der Regen prasselte hin und wieder auf ihre Öljacken. Die klammen Finger konnten kaum die Paddel halten.
Plötzlich schwankte ein Boot und drohte zu kentern. Jan war auf eine Pfahlreihe gefahren, die im Wasser stand. Die nächste Welle hob ihn darüber hinweg. Die ändern beiden hatten nichts gespürt. Aber nun berührte auch Heio und bald darauf Inge mit dem Paddel eine derartige Reihe von Pfählen. So schwierig und unangenehm das für die Boote schien, so wußten die drei nun, daß sie nicht allzuweit vom Ufer entfernt waren, denn diese Hindernisse konnten nur die Buschdämme und Faschinenzäune der Landgewinnungswerke sein.
Bald hatten sie auch Grund, und wenig später saßen die Boote im Schlick fest. Das Wasser schien nicht mehr zu steigen. Es war Nipptidenzeit. Obwohl die Uhr schon die vierte Morgenstunde zeigte, konnte man noch nichts erkennen. Frierend saßen sie in ihren Booten und warteten.
Endlich glaubte Jan in der langsam beginnenden Dämmerung des trüben, regnerischen und windigen Tages einen Deich in der Feme erkennen zu können. Heller und heller wurde es. Nun sahen es auch die ändern. Mitten zwischen den recht eckigen Feldern der Buschdämme saßen sie auf dem Schlick. Unweit von ihnen war frisch gegrüppt. Sie stiegen mit steifen Beinen in den hier besonders weichen Schlamm, beluden sich mit Zelt und Schlafsäcken und gingen wie im Traum zum Deich. Als die ersten grünen Quellerpflanzen mit ihren saftigen Stengeln unter ihren Füßen knirschten, wurde der Boden allmählich fester.
Da begann schon der samtene Vorlandrasen, überblüht von rosa Strandnelken. Über einige Vorlandpriele mußten sie noch klettern, und dann konnten sie den Deich ersteigen und hinter ihm, geschützt vor dem scharfen, stürmischen Wind, die Zelte aufschlagen. Kaum konnten sie vom Deich ihre Boote weit draußen erkennen, und noch mehrmals mußten sie den beschwerlichen Weg hin- und herwandem, bis sie ihre Fahrzeuge und alle ihre Sachen geborgen hatten.
Dann aber schliefen sie wie die Toten in ihren Zelten. Als sie erwachten, hatte sich das Wetter erst ganz entfaltet. Vier Tage heulte der Sturm über den Deich. Tiefhängende dunkle Wolken drängten sich hastend über den weiten Himmel. Es kam ein Hochwasser, daß das ganze Vorland überschwemmt war. Schäumende graue Wellen jagten aus der Unendlichkeit heran und schleuderten flockige Schaumfahnen bis hoch über den grünen Deich. Es war, als wollte die Natur es ihnen richtig zeigen, welch einem Geschick sie mit knapper Not entgangen waren.
Das war das erste Erlebnis des Watts, das die drei hatten. Es hatte ihnen die Sehnsucht nach dieser ungeheuerlichen Landschaft nicht nehmen können.

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