Werner Wrage - "Faltbootfahrten im Wattenmeer - Erlebtes Watt"

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Erlebtes Watt - Faltbootfahrten im Wattenmeer

LANDSCHAFT UND MENSCH
Es ist sonderbar, wie stark die Landschaft auf das Herz, die Sinne und das ganze Wesen eines Menschen wirkt. Manche spüren es kaum, andere sind ihrem Weben fast schmerzvoll verhaftet. Nicht nur die Geographie spricht von der "Großstadtlandschaft", auch so mancher umgesiedelte Städter wird in der Fremde nun darum wissen. Stärker aber als alle Landschaften, in denen der Mensch lebt und denen er die Züge seines Wirkens eingeprägt hat, ergreifen ihn die Ödgebiete der Erde - die Wüsten, die Hochgebirge, die Meeresküsten - alle jene Strecken, in denen die Natur rein und unverfälscht erscheint.
Europa ist arm an solchen Plätzen. Aus der Fülle seiner dichtgedrängten Siedlungen heben sich nur die Gebirge hervor. Skiläufer und Alpinisten singen das Lied der Hochgebirgseinsamkeiten, die schon so oft keine mehr sind. Ebenso mächtig, erhaben, ebenso unberührt, wild und gefährlich aber ist die Welt des Wattenmeeres an der deutschen Nordseeküste. Nur sehr wenigen ist sie in ihrer ganzen Tiefe bekannt. Die Küstenbewohner wissen meist von ihr nicht mehr als der Badegast, der von Deich oder Düne einen Blick in die geheimnisvolle Welt des Watts tut. Von Holland bis Dänemark erstreckt sich jenes seltsame Gebiet, in dem zweimal am Tage im Verlauf der Ebbe das Meer seinen Boden bis zu 20 km Breite trockenfallen läßt. So könnte man eine Tageswanderung auf dem Meeresgrunde machen, wenn nicht die Flut bald wieder diese fremdartige "Landschaft" in eine wogende Salzwasserfläche verwandelte. Auch schon bei einer Wanderung während der Ebbestunden spürt man, daß dieses Gebiet seine Geheimnisse zu schützen weiß. Tief sinkt man an manchen Stellen in den weichen Meeresschlamm, den der Küstenbewohner Schlick nennt, ein. Man kann so tief darin versinken, daß man sich nicht befreien kann und von der kommenden Flut ertränkt wird, wie es fast mir selbst erging. Dann wieder sperren Salzwasserbäche mit strudelnder Strömung und breite Meeresflüsse den Weg. Wenn man bei Niedrigwasser im Flugzeug über den Watten schweben könnte, so sähe man die grauen und gelblichen Flächen zernagt von einem aderartigen Geflecht derartiger Priele und Wattströme. Sie sind von den Millionen Kubikmetern Meereswasser, die in den sechs Stunden der Ebbe den Meeresboden verlassen, in urwüchsiger Wildheit eingegraben. Die Mündung dieser Ströme in die offene See (Seegatt) liegt meist zwischen hohen, von der Brandung aufgeschütteten Sandbänken.
Vor den Mündungen der Wattströme stößt man auf die Außensände, die oft aus vielen hintereinanderliegenden, mehrere hundert Meter langen Sandwellen, den Strombänken, bestehen. Hier ist das Reich der Sturmbrandung, der saugenden Triebsände, die, wie ich es selbst erlebte, einen kleinen Dampfer rasch verschlingen können. Schon zwei Stunden nach der Strandung sahen nur noch 20 cm des sieben Meter langen Vormastes aus dem Kolk heraus, der sich an der Stelle des Wracks befand.
Sind die Sandbänke, die zwischen den Wattstrommündungen liegen, von den Sturmfluten über das Niveau des mittleren Hochwasserstandes aufgespült, so können sich auf ihnen Dünen bilden und in deren Schutz durch Anschlickung Grünlandflächen. So sind die Ostfriesischen Inseln entstanden. Nur wenige Reste alten Landes, die Kerne der Inseln Sylt und Föhr, ragen aus dem Watt empor. Die hohen Sandbänke und stellenweise sogar die Sandinseln wandern von Wind und Brandung getrieben nach Osten und zuweilen über das dahintergelegene tiefere Schlickwatt hinweg. Dessen reiche Tierwelt taucht dann später in den durch den Druck der darübergewanderten Sandmassen verfestigten Schlickschichten als eine Art "Fossilien" außen in der Brandungszone wieder auf. In kleinerem Ausmaße geschieht dasselbe an den Ufern der Priele und Wattströme, die ihren Lauf nach jeder Sturmflut und jeder Eisflut des Winters verlagern.
So ist das Watt eine der dynamischsten und erregendsten Landschaften des Erdballes, zumal die Kräfte, die seine Gestalt bestimmen, fast alle noch heute wirken. Erdgeschichtliche Vorgänge, wie Bildung von Gesteinsschichten und Versteinerungen, Wanderung von Strömen und Inseln, können wir in zusammengedrängter Kürze vor unseren Augen ablaufen sehen.
Die norddeutsche Landschaft, die so reich an fremdartigen Formen ist, braucht zu ihrem Verständnis das Wissen um Fremdkräfte, wie sie beispielsweise in der Eiszeit die Moränenzüge Schleswig-Holsteins formten. Im Watt aber ist das nur in beschränktem Maße der Fall. Wohl ist das Material der Watten auch zu einem großen Teil durch die "Urströme" aus den Moränen in die "Urnordsee" geschwemmt. Wohl gab es damals vielleicht eine Dünenküste am Meeressaum, die erst nach dem Durchbruch des Kanals und mit dem Beginn der Küstensenkung zerriß, aber bis auf wenige alte Kerne sind die heutigen Düneninseln völlig umgelagert und auf die geschilderte Weise durch die noch heute wirkenden Kräfte von Meer und Wind entstanden. Das Material ist alt, die Formenwelt in all ihrer Urwüchsigkeit und Wildheit aber geologisch jung.
Die Gefahren, die überall in ihr lauern - die Unwegsamkeit, der Wechsel der Gezeiten und die Möglichkeit eines raschen Witterungsumschlages sind die Gründe, weshalb die Welt des Watts kaum näher bekannt geworden ist. Der Schauer des Erhabenen, der große unberührte Naturlandschaften durchweht, hatte mich als jungen Geographen angezogen und in mir den Wunsch geweckt, diese Welt in ihren Einzelheiten kennenzulernen und die Gesetze zu begreifen, nach denen sie sich formte. Das Wunderwerkzeug des leichten seetüchtigen Faltbootes, das dem Kajak der Eskimo ähnelt, erschloß mir erst das Watt in der Fülle seiner Rätsel, Wunder und Geheimnisse. Meine Frau und begeisterte Freunde begleiteten mich.
Es ist schwer, über manche oft sehr persönliche Dinge solcher Fahrten zu berichten. Aber gerade sie sind meist besonders entscheidend für das Erlebnis der Landschaften. Denn Landschaft und Mensch werden, je mehr man sich in sie versenkt, zu einer Einheit. Wind und Wolkenzug, Licht und Schatten, Ebbe und Flut ziehen auch durch Blut und Atem, durch Denken, Wollen und Handeln der Menschen. Es ist eine magische Verbundenheit, vom Künstler erahnt, für die Wissenschaft noch ein Neuland, das aber keineswegs unbetreten bleiben wird. Es ist mir darum leichter geworden, von meinen Reisen zu erzählen, wenn ich sie gleichsam als die Erlebnisse Fremder beobachtend gestaltete. Auch sind viele meiner Fahrten so abenteuerlich gewesen, daß ein schlichter Bericht wie Aufschneiderei wirken würde. So habe ich sie zuweilen als Einzelgeschichten von Jan, Inge und Heio erzählen lassen, obgleich ich sie alle selbst erlebt habe.
Von meinen jahrelangen Forschungen, Fahrten und Abenteuern in allen Teilen dieses Wattengebietes kann ich die drei Kameraden berichten lassen, die ich hier zum Eingang vorstelle - Fahrten, die Mühe und Schweiß, Gefahr und bittere Todesangst, aber auch ein reiches Glücksgefühl schenkten, wie jedes Vordringen ins Unbekannte, das mit ganzem Herzen geschieht.

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